Eröffnungsrede
Der Wissenschaft verpflichtet
Eröffnungsvortrag des Vorsitzenden des 103. Kongresses der Deutschen
Gesellschaft für Innere Medizin,
Wiesbaden, 6. April 1997
Johannes Köbberling
© URBAN & VOGEL MÜNCHEN 1997
J. Köbberling:
Der Wissenschaft verpflichtet
Med. Klin. 92 (1997), 181 189 (Nr. 4)
Meine Damen und Herren,
in den vergangenen Jahren wurden von dieser Stelle aus viele wichtige Erklärungen zu
gesellschaftlichen Fragen abgegeben, wie der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin, der
ärztlichen Freiheit und Verantwortung, der Forschungsförderung und der Nachwuchspflege,
der internistischen Identität, den ethischen Regeln in der Berufsausübung oder der
Qualitätssicherung. Heute möchte ich mich ganz auf unsere Verpflichtung zur Wissenschaft
in der Medizin konzentrieren, auf ein Thema, das gerade uns als die eigentliche
wissenschaftliche Gesellschaft in der Inneren Medizin besonders beschäftigen muß.
Der Wissenschaftsbegriff in der Medizin
Die Wissenschaft in der Medizin erfreut sich nicht einer hohen allgemeinen
Wertschätzung. Sie wird von verschiedener Seite mißachtet und diskriminiert. Zu den
übelsten Verleumdungen gehört die dialektische Gegenüberstellung von wissenschaftlicher
Medizin einerseits und menschlicher Medizin andererseits, wie sie von vielen Vertretern
sogenannter Alternativverfahren der Medizin konstruiert wird. Klischeehafte Vorstellungen
über bestimmte Erscheinungen der modernen Medizin, die als unmenschliche Auswüchse
empfunden werden, werden häufig mit der wissenschaftlichen Medizin assoziiert.
Fehlentwicklungen in bestimmten Bereichen können aber nicht als Rechtfertigung für eine
solche verallgemeinernde Fehlbeurteilung dienen. Schon Eugen Bleuler hat in seiner
berühmten und noch heute lesenswerten Schrift von 1919 über "Das autistisch
undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung" massive Kritik an der
damals praktizierten Medizin geäußert und doch gleichzeitig ein glänzendes Plädoyer
für eine rationale und dennoch humane wissenschaftliche Medizin abgegeben. Sein Satz,
"Ich stecke selbst in den Fehlern, die ich rüge, mitten drin," gilt auch heute.
Angesichts der verzerrten Darstellung der wissenschaftlichen Medizin in der
Öffentlichkeit ist es kaum verwunderlich, daß Angebote vermeintlich menschlicherer
Alternativen breite Resonanz finden und daß hierin eine Lösung für verschiedene
Probleme der Medizin gesehen wird. Dieser Auffassung muß aber entschieden widersprochen
werden. Ganz im Gegensatz zu den verbreiteten Vorstellungen wird eine gute, menschliche
Medizin nur durch die Wissenschaft in der Medizin sichergestellt. Unwissenschaftlichkeit
ist dagegen der Boden der Inhumanität. Ich habe hiermit ein wesentliches Fazit meiner
Ausführungen vorweggenommen, und ich hoffe, daß ich es mit den folgenden Ausführungen
überzeugend begründen kann.
Die grundlegenden philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Wissenschaftsbegriff in
diesem Jahrhundert gehen auf Karl Popper zurück. Nach ihm ist Wissenschaft nicht
Gewißheit, auch nicht Suche nach Gewißheit. Die wissenschaftliche Erkenntnis besteht
vielmehr in der permanenten Suche nach objektiv wahren, erklärenden Theorien. Diese Suche
besteht darin, den Fehler, den Irrtum zu bekämpfen und alles zu tun, um Unwahrheiten zu
entdecken und auszuschließen. Ausgehend von der sokratischen Einsicht in unser
Nichtwissen hat er seine Fehlbarkeitslehre begründet. Statt von Wissen im Sinne von
Gewißheit redet er von Vermutungswissen oder Theorien. Manche Theorien können wahr sein,
aber auch wenn sie wahr sind, so können wir das niemals sicher wissen, weil es kein
objektives Kriterium der Wahrheit gibt. Es gibt aber ein Kriterium des wissenschaftlichen
Fortschritts, nämlich die Bereitschaft zur ständigen kritischen Überprüfung und
gegebenenfalls Verwerfung der Hypothesen. Der ständige Zweifel, der zu immer neuen
Versuchen der Falsifikation führt, ist somit einer der wesentlichen Motoren für den
wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht durch die
Bemühung, immer feinere Siebe der Falsifikation zu konstruieren und dadurch zu immer
richtigeren Aussagen über unsere Welt zu gelangen.
Die Theorien von Popper über den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sind auch auf die
Medizin anwendbar. Wenn selbst für die exakte Naturwissenschaft gilt, daß alles Wissen
nur Vermutungswissen ist Popper hat dies oft mit der Ablösung des Newtonschen
Weltbildes durch Einsteins Theorien belegt , dann gilt dies für die Medizin um so
mehr. Uns fallen leicht Beispiele von vermeintlich gesichertem Wissen in der Medizin ein,
das durch wissenschaftlichen Fortschritt, durch neue Methoden oder einfach durch eine
vorurteilsfreie Überprüfung widerlegt wurde.
Erst relativ spät in der Wissenschaftsgeschichte wurden Zweifel und Falsifikation als
Methoden des Erkenntnisgewinns erkannt und genutzt. Aristoteles' Behauptung, daß die Frau
weniger Zähne als der Mann habe, war fast zwei Jahrtausende lang gültig, weil man der
berühmten Autorität glaubte und nicht zweifelte. Folglich zählte man die Zähne gar
nicht erst nach. Mit dem Zählen allein ist es allerdings nicht getan. Für die Methode
des Zweifels müssen zunächst überprüfbare, also widerlegbare Hypothesen entwickelt
werden, etwa die Hypothese "Mann und Frau unterscheiden sich nicht in der Zahl ihrer
Zähne". Eine solche Hypothese, in diesem Falle wäre es eine sogenannte
Nullhypothese, ist gegebenenfalls leicht widerlegbar. Da die Hypothese nicht falsifiziert
ist, muß akzeptiert werden, daß diesbezüglich kein Unterschied zwischen den
Geschlechtern besteht. Auch für viele andere Bereiche in der Medizin gilt, daß zunächst
widerlegbare Hypothesen erstellt werden müssen, meistens auf der Basis von meßbaren
Daten. Diese Hypothesen sind wissenschaftlich überprüfbar, nämlich falsifizierbar.
Dagegen ist die Aussage: "Ich habe erlebt, daß dieses Medikament hilft, daß es also
wirksam ist," nicht widerlegbar. Eine solche Aussage ist deshalb ohne
wissenschaftliche Tiefe, und eine daraus abgeleitete Verallgemeinerung ist
unwissenschaftlich.
Keinesfalls darf die Wissenschaft in der Medizin allein als Naturwissenschaft verstanden
werden. Der mit Abstand am häufigsten zitierte Satz in den Eröffnungsreden der
Internistenkongresse stammt von Bernhard Naunyn, dem Vorsitzenden des Jahres 1902.
Meistens wird dieser Satz zitiert als "Medizin wird Naturwissenschaft sein oder sie
wird nicht sein." Rudolf Gross bemerkte aber schon im Jahre 1978, daß Naunyn falsch
zitiert werde: Es müsse nicht Naturwissenschaft, sondern Wissenschaft heißen. Eberhard
Buchborn stellt 1980 fest, daß Naunyn zwar Wissenschaft gesagt, aber Naturwissenschaft
gemeint habe, während Walter Gerok diese Frage genau umgekehrt sieht. Ich möchte mich an
diesen Versuchen einer Naunyn-Exegese nicht weiter beteiligen, entscheidend ist allein
die Erkenntnis, daß Medizin nur Medizin bleibt, wenn sie Wissenschaft bleibt. Die
Gleichsetzung von Wissenschaft und Naturwissenschaft in diesem Zusammenhang wäre nicht
nur falsch, sondern dem Wissenschaftsgedanken sogar abträglich. Die falsche Gleichsetzung
von Medizin und Naturwissenschaft macht es den Gegnern der wissenschaftlichen Medizin zu
leicht, diese zu diskriminieren und die unwissenschaftliche Medizin zu rechtfertigen.
Unbestreitbar hat die Naturwissenschaft Wesentliches zum Fortschritt der Medizin
beigetragen. Die medizinische Wissenschaft ist aber mehr als Naturwissenschaft. Sie ist
nach einer Definition von Klaus Dietrich Bock "eine Anwendungs- und
Handlungswissenschaft, die Methoden und Theorien anderer Wissenschaften, der Chemie, der
Physik, der Biologie, der Psychologie und der Sozialwissenschaften unter dem Gesichtspunkt
ihrer Brauchbarkeit für die Erkennung, Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten
auswählt, modifiziert und empirisch Regeln für die Anwendung in Forschung und Praxis der
Medizin erarbeitet." Für alle diese Teilaspekte gelten aber die Kriterien der
Wissenschaftlichkeit, wie sie von Popper erarbeitet wurden.
Unwissenschaftliche Verfahren in der Medizin
Neben der Medizin, wie sie als ernsthafte und wissenschaftlich überprüfbare Heilkunde
an den Hochschulen gelehrt und überall von verantwortungsvollen Ärztinnen und Ärzten
ausgeübt wird, gibt es eine Vielzahl diagnostischer und therapeutischer Verfahren, die
unter verschiedenen Begriffen zusammengefaßt werden, um sie von der eigentlichen Medizin
abzugrenzen. In früheren Jahren war der negativ besetzte Begriff
"Kurpfuscherei" verbreitet, heute heißt es häufig vornehmer
"unkonventionelle medizinische Verfahren". Zunehmend findet man die positiv
besetzten Begriffe "Alternativmedizin" oder ganz modern und vermeintlich
aufgeklärt "Komplementärmedizin". Aus verschiedenen Gründen verwende ich den
Begriff Paramedizin, womit alle Verfahren zusammengefaßt sein sollen, die außerhalb der
wissenschaftlichen Medizin stehen.
Die Liste der unter Paramedizin zusammenzufassenden Verfahren ist groß. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit darf ich einige der therapeutischen Verfahren nennen: Zellulartherapie,
Ozontherapie, Chelattherapie, Eigenblut- und Eigenharnbehandlung, Symbioselenkung,
Magnetfeldtherapie, Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie, Ganzheits-Zellregenerationstherapie,
Bioresonanztherapie, Bachsche Blütentherapie sowie Homöopathie und anthroposophische
Medizin. Nicht weniger vielfältig sind die diagnostischen Verfahren wie Iris-, Zungen-
oder Ohrmuscheldiagnostik, die verbreitete Elektroakupunktur nach Voll in verschiedenen
Varianten, die sogenannte Decoderdermografie, die Anthroposkopie, die
Thermoregulationsdiagnostik, der sogenannte Kristallisationstest, der kapillardynamische
oder der holistische Bluttest, bis hin zur Anwendung von Detektoren für Erdstrahlen.
Zwischen den Verfahren gibt es eine Abstufung ihrer Plausibilität, aber allen genannten
Verfahren ist gemeinsam, daß sie keine überprüfbaren diagnostischen Ergebnisse liefern
und keine überprüfbare therapeutische Wirksamkeit besitzen. Drei therapeutische
Verfahren, die Phytotherapie, die Homöopathie und die Anthroposophie, nehmen eine gewisse
Sonderstellung ein. Die beiden letztgenannten unterscheiden sich nicht prinzipiell in
ihrer Qualität von anderen paramedizinischen Verfahren. Sie haben aber die Ehre,
gemeinsam mit der Phytotherapie im Arzneimittelgesetz als "besondere
Therapierichtungen" genannt und bevorzugt behandelt zu werden. Im Gegensatz zu
anderen Medikamenten bedürfen die Therapeutika dieser Verfahren keiner Zulassung mit
Wirksamkeitsnachweis, zur Registrierung genügt die Vorlage von einfachem sogenannten
Erkenntnismaterial nach der Art "wir haben nur Gutes gesehen." Wegen dieser
herausgehobenen Stellung sollen die Besonderheiten paramedizinischer Therapieverfahren
exemplarisch an ihnen dargelegt werden.
Die Phytotherapie ist die älteste unter den "besonderen Therapierichtungen",
und es fällt etwas schwerer, sie der Paramedizin zuzuordnen, ist sie doch die Mutter der
gesamten heutigen Pharmakotherapie. Sie selbst hat sich aber durch besondere
Glaubenssätze zumindest in die Nähe zur Paramedizin gebracht. Es kann gar nicht genug
betont werden, welch ein großer medizinischer Fortschritt in dem Wandel vom Naturprodukt
zum definierten medizinischen Präparat liegt, auch wenn das eigentliche Wirkprinzip
bereits im Naturprodukt vorhanden war. Was könnte es dann aber für Gründe geben, wieder
mehrere Schritte zurückzugehen und neben der modernen Pharmakotherapie, die natürlich
viele Pflanzenstoffe in ihr Repertoire aufgenommen hat, sich wieder der Phytotherapie
zuzuwenden und diese als eigenständige Therapierichtung zu betreiben? Der Hauptgrund
liegt darin, daß man eine Berechtigung sucht, auf übliche Prüfungen der Wirksamkeit und
der Unbedenklichkeit verzichten zu dürfen. Man möchte ganz bewußt den Glauben bewahren,
pflanzliche Substanzen seien immer gut. Man grenzt sich deswegen bewußt von der
angstbesetzten Chemie ab und verwendet Begriffe wie "Apotheke Gottes". Gerade
diese Ansicht ist aber falsch. Der Anteil schädlicher und möglicher krebserzeugender
Substanzen unter den pflanzlichen Inhaltsstoffen ist nicht geringer als unter
synthetisierten Chemikalien.
Noch eindeutiger ist die Situation bei der Homöopathie. Für die gläubigen Anhänger
dieser Therapieform existiert eine Art Bibel der reinen Lehre, nämlich Hahnemanns
Organon. Hahnemann hat vor 200 Jahren ein in sich geschlossenes und von ihm selbst als
definitiv erachtetes Lehrgebäude errichtet. Solche geschlossenen Systeme, so unsinnig sie
auch sind, üben eine gewisse Faszination auf manche Menschen aus. So haben es die
Vertreter dieser Lehre geschafft, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist,
hier sei eine ernsthafte Alternative zur Medizin zu finden, eine Auffassung, die nicht
selten auch von sonst kritischen und in anderen Bereichen vernünftigen Menschen geteilt
wird. Weder der bekannte Ähnlichkeitssatz noch die Potenzierung durch Verdünnen, die
häufig zu Präparationen führt, in denen nachweislich außer dem Verdünnungsmittel
keine Substanz enthalten ist, sind in irgendeiner Weise wissenschaftlich belegt.
Erfolgsberichte über homöopathische Heilungen betreffen nie größere Patientengruppen
mit bestimmten Krankheiten, sondern bestehen aus einzelnen Fallbeschreibungen.
Fallbeschreibungen entziehen sich aber der Falsifikationsmöglichkeit, sie sind
prinzipiell wahr.
Bei der dritten staatlich privilegierten paramedizinischen Therapieform, der
Anthroposophie, nimmt Rudolf Steiner ungefähr die gleiche Stellung ein wie Hahnemann bei
den Homöopathen. Es handelt sich um ein Lehrgebäude mit einer Mischung verschiedener
anderer Therapieverfahren und eigenständiger Ideen von Steiner. So finden sich Züge der
Phytotherapie, etwa bei der Anwendung von Mistelextrakten, andererseits werden aber auch
anorganische Stoffe angewendet, wie Quecksilber und Blei in zum Teil erschreckend hohen
Dosierungen. Alles wird durch die sogenannte anthroposophische Wesens- und Bedeutungslehre
zusammengehalten, bei der auch Edelsteine und Gestirne in das Gesamtkonzept einbezogen
werden.
Auch bei den sehr verbreiteten paramedizinischen Diagnoseverfahren gibt es keine
systematischen Untersuchungen über die Richtigkeit der Hypothesen, die ihnen
zugrundeliegen. Man muß sich deshalb fragen, wie es kommt, daß solche häufig schon vom
Primäreindruck völlig unplausible Methoden eine derartige Verbreitung erfahren haben.
Die Methoden sind meistens so ausgelegt, daß die Erwartungen sich immer erfüllen
müssen. Die diagnostizierenden Ärzte fühlen sich, da externe Qualitätsmerkmale fehlen,
immer wieder selbst bestätigt.
Die Geschichte der Akzeptanz der Paramedizin
Im Zusammenhang mit dem Versuch, die große Verbreitung der Paramedizin zu verstehen,
halte ich es für wichtig, sich auch daran zu erinnern, in welcher Zeit sie in Deutschland
hoffähig wurde. Eine offizielle und staatliche Anerkennung erfuhren Kurpfuscher und
Außenseiter in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Reichsärzteführer Dr. Wagner hatte
die "Neue deutsche Heilkunde" begründet, die sich an der Pseudophilosophie von
Blut und Boden ausrichtete. Rudolf Hess, der sogenannte Stellvertreter des Führers, hat
bereits 1933 geschrieben, daß im Interesse der Volksgesundheit die Naturheilkunde einen
ihr gebührenden Rang erhalten solle und daß sich Schulmedizin und Naturheilkunde
gegenseitig befruchtend ergänzen müssen. Der Widerstand einiger Mediziner gegen das
geplante Heilpraktikergesetz wurde als reaktionäre und staatsfeindliche Äußerung junger
Mediziner aus "gewissen Hochschulkreisen" bezeichnet.
Dieses traurige Kapitel betrifft leider auch unsere Deutsche Gesellschaft für Innere
Medizin. Wir dürfen uns nicht darum drücken, diese Phase unserer eigenen Vergangenheit
zur Kenntnis zu nehmen, in der der Geist der Unwissenschaftlichkeit akzeptiert wurde. Im
Jahre 1936 begrüßte der Vorsitzende unserer Gesellschaft von dieser Stelle aus die
Reichsarbeitsgemeinschaft für eine neue deutsche Heilkunde, deren Mitarbeit dem Kongreß
der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin die besondere Bedeutung gebe. Die Abhaltung
des gemeinsamen Kongresses diene dem Ziel, "über Geist und Wesen einer neuen
deutschen Heilkunde zu unterrichten." Dabei wurde sogar das Ziel einer Vereinigung
mit dieser Gruppe genannt. Nach Meinung des Vorsitzenden sei eine Zeit neuen
wissenschaftlichen Denkens in der Medizin angebrochen. Dies alles geschehe unter dem
Einfluß des nationalen Umbruchs. Dabei wird darauf hingewiesen, daß die bis dahin
praktizierte Medizin in Diagnostik und Therapie eine gewisse "Volksentfremdung"
aufweise. Ein Jahr später rief der Vorsitzende zwar "zu ernster und gediegener
Wissenschaft" auf, kommt zum Schluß seiner Eröffnungsrede aber auch zur
Verherrlichung der "deutschen Medizin des neuen Aufbruches".
Grenzen und Unterschiede zwischen wissenschaftlicher Medizin und
Paramedizin
Kehren wir zurück zur Gegenwart und fragen uns, was die paramedizinischen Verfahren
gemeinsam haben. Nichts von den verschiedenen Begriffen, die landläufig zur Beschreibung
und zur Grenzziehung verwandt werden, gibt den Sachverhalt richtig wieder. Begriffe werden
hier bereits zu Programmen, und es erfordert eine hohe Sensibilität, um zu verhindern,
daß mit diesen Begriffen allein Glaubwürdigkeit und Plausibilität geschaffen werden.
Bei der "Enttarnung" dieser Begriffe folge ich meinem früheren Mitarbeiter
Jürgen Windeler, der sich in mehreren hervorragenden Beiträgen mit den
Argumentationsstrukturen der Vertreter nichtwissenschaftlicher Verfahren in der Medizin
auseinandergesetzt hat.
Das Operieren mit falschen Begriffen beginnt bereits damit, daß die eigentliche Medizin
als "Schulmedizin" bezeichnet wird. Wohlwollend könnte man den Begriff so
interpretieren, daß dies die Medizin ist, die an den Hochschulen gelehrt wird. Der
Begriff wurde aber bereits von Hahnemann verwandt, um die zu seiner Zeit etablierte
Medizin abzuqualifizieren, übrigens nicht ganz zu Unrecht. Schule war in diesem
Zusammenhang als starres, unflexibles System gemeint, das in festen Denkstrukturen
verhaftet und unfähig zu Innovationen ist. Es entstand die Assoziation zwischen
Schulmedizin und verstaubter, verkrusteter akademischer Medizin, die weit weg von der
Wirklichkeit des kranken Menschen ist, weniger an Wahrheitsfindung interessiert als an
Deutung, Systematisierung und Verteidigung ihrer eigenen Wahrheiten. Auf diese Weise
gelingt es leicht, die wissenschaftliche Medizin als ideologisch geprägt herabzusetzen
und verächtlich zu machen. Der Begriff Schulmedizin besagt also genau das Gegenteil von
dem, was ausgedrückt werden müßte, denn die wissenschaftliche Medizin vertritt ja
gerade nicht ein geschlossenes System, sondern ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich
kontinuierlich in Frage stellt. Ich habe mir deshalb angewöhnt, den Begriff Schulmedizin
konsequent zu vermeiden und von Medizin schlechthin zu sprechen bzw. von
wissenschaftlicher Medizin, wenn die Abgrenzung zur unwissenschaftlichen Medizin oder
Paramedizin beabsichtigt ist. Aus ähnlichen Gründen verwende ich für die Paramedizin
auch nicht die im folgenden aufgeführten Begriffe, weil sie zu Unterstellungen gegenüber
der wissenschaftlichen Medizin führen bei gleichzeitiger Ideologisierung der anderen
Seite durch die Verwendung von Eigenkonstrukten, die dem wahren Sachverhalt nicht gerecht
werden.
Sehr verbreitet ist der Begriff "Alternativmedizin", der suggeriert, daß neben
der bestehenden und wissenschaftlich erprobten Medizin tatsächlich eine Alternative
bestehe. Diese Alternative besteht aber nur in dem erklärten Verzicht auf
wissenschaftliche Methodik und alle für die eigentliche Medizin gültigen
Qualitätsstandards. Irreführend ist auch der Begriff "Ganzheitsmedizin", der
suggeriert, daß die wissenschaftliche Medizin nicht ganzheitlich sei. Es soll zum
Ausdruck gebracht werden, daß die Medizin unter der Faszination des technisch Machbaren
die psychischen und sozialen Probleme der Patienten vernachlässige. Soweit derartige
Defizite in der wissenschaftlichen Medizin bestehen, müssen sie aufgearbeitet und
beseitigt werden. Hierfür bedarf es aber keiner neuen Definition.
Auch der Begriff "Erfahrungsmedizin" stellt eine tendenziöse Neudefinition dar.
Zweifellos beruht die wissenschaftliche Medizin in weiten Teilen auf Erfahrung. Es darf
aber nicht übersehen werden, daß es verschiedene Qualitäten der Erfahrung gibt. Dabei
ist die strukturierte Erfahrung deutlich höher einzustufen als alle anderen Formen von
Erfahrung. Die paramedizinischen Methoden haben sich aber bisher fast ausschließlich der
unstrukturierten Erfahrung bedient. Mit der Verwendung des Begriffes Erfahrungsmedizin
soll häufig ausgedrückt werden, warum die hier eingeordneten Methoden sich nicht mit den
üblichen wissenschaftlichen Verfahren oder sogar überhaupt nicht prüfen lassen.
Nach einem ähnlichen Schema wurde der Begriff "Naturheilkunde" eingeführt. Die
Verwendung des Wortes Natur dient allein zur Durchsetzung besonderer Rechte, zum Beispiel
in der Arzneimittelzulassung. In Wirklichkeit handelt es sich um einen inhaltlich leeren
Begriff, der jedoch so erfolgreich verwendet werden kann, daß er schlichtweg auf den
gesamten Bereich der Paramedizin erweitert wird. Dabei wird übersehen, daß gerade viele
paramedizinische Therapieverfahren in hohem Maße "künstlich" und zum Teil
technisch sehr aufwendig sind und sich weit von der Natur entfernt haben. Auch bei
diagnostischen Verfahren der Paramedizin, die ebenfalls unter Naturheilkunde subsumiert
werden, werden häufig besonders aufwendige technische Pseudovorrichtungen verwendet,
offenbar weil neben dem Begriff "Natur" gleichzeitig die Faszination der Technik
für den gewünschten Erfolg mit herangezogen werden soll. Ganz Analoges läßt sich zum
Begriff "biologische Medizin" sagen. Begriffliche Unschärfe ähnlicher
Qualität, die ausschließlich für ein bestimmtes Ziel instrumentalisiert wird, kommt
auch in den Bezeichnungen "sanfte Medizin" und "humanistische Medizin"
zum Ausdruck.
Etwas schwieriger durchschaubar wird die falsche Grenzziehung, wenn hochtrabende und
wissenschaftlich anmutende Begriffe verwandt werden, die zum Teil speziell hierfür
erfunden werden, wie zum Beispiel "autonomie- versus heteronomieorientierte
Medizin" oder "hygeogenetisch-salutogenetisch ausgerichtete Medizin". Mit
der Verwendung solcher leeren Worthülsen wird nur die Eitelkeit derer befriedigt, die vom
Inhalt her gern auf Wissenschaft verzichten möchten, sich aber das Renommée der
Wissenschaftlichkeit nicht gerne entgehen lassen.
Der wirkliche, aber entscheidende Gegensatz zwischen Medizin und Paramedizin liegt darin,
daß nur bei der wissenschaftlichen Medizin Methoden und Theorien grundsätzlich für eine
Prüfung offen sind und daß deren Vertreter das Ergebnis dieser Prüfung akzeptieren.
Nicht alles innerhalb der Medizin ist geprüft, und wir können sicher davon ausgehen,
daß vieles, was heute für wahr und gültig angesehen wird, bei einer entsprechenden
Überprüfung fallengelassen werden muß. Wenn aber bestimmte Bereiche der Medizin sich
prinzipiell einer Prüfung widersetzen, gelangen sie in den Bereich der Paramedizin. Im
Grunde ist also die Grenzziehung zwischen Medizin und Paramedizin ganz einfach, auch wenn
das Erkennen der Grenzen im Einzelfall für medizinische Laien recht schwierig sein kann.
Es gibt aber auch für Laien erkennbare Merkmale der Paramedizin, die zur Unterscheidung
von der wissenschaftlichen Medizin beitragen können. Ein wichtiges Merkmal der
Paramedizin ist die Nennung sehr unspezifischer Wirkungen mit Listen möglichst breiter
Indikationen. Sehr häufig findet sich ein fast allumfassender Anspruch solcher
Therapieverfahren. Für die sogenannte hämatogene Oxidationstherapie wurden aus
verschiedenen Mitteilungen 62 Indikationen zusammengestellt, die von Gefäßverschlüssen
an der Netzhaut, über Säuremangel des Magens, Diabetes mellitus, Hepatitis,
Lungenemphysem, Nierensteinen, Venenthrombosen bis zu Wundheilungsstörungen reichen. Ein
anderes Merkmal ist die Weichheit der Formulierung bei Therapieberichten, die überwiegend
auf kasuistischen Mitteilungen oder retrospektiven Studien beruhen. Ein weiteres Merkmal
ist das Fehlen an Sachlichkeit und kritischer Distanz, das von einem Übermaß an
Enthusiasmus, fanatischen Heilungsberichten und üppig ins Kraut schießenden
Spekulationen übertüncht wird. Kasuistisch untermauerte Wirkbehauptungen werden dann als
gesicherte Tatsachen behandelt, Kritik wird nicht akzeptiert, Zweifel werden als
persönliche Anfeindung und böswillige Verleumdung empfunden. Dies alles sind Zeichen
eines Sektiererverhaltens, die sich durch weite Teile des paramedizinischen Schrifttums
ziehen. Viele paramedizinische Verfahren sind Teil eines geschlossenen Lehrgebäudes, zum
Teil eines Weltbildes. Nicht selten beruft man sich auf uralte Kulturen oder auf einen
charismatischen Begründer der Lehre, der so sehr verehrt wird, daß Veränderungen an dem
Lehrgebäude tabuisiert werden.
Die kampflose Hinnahme der falschen Begriffe, zum Beispiel die immer wieder eingehämmerte
Gleichsetzung von Naturheilmitteln mit sanfter Medizin und risikoarmer Medizin bei
jeglichem Verzicht auf Wirksamkeitsnachweis, zeigt bereits Folgen. Die gleiche
Denkschiene, die für die Beurteilung der Arzneimittel der sogenannten "besonderen
Therapieverfahren" noch eine gewisse Stringenz hat, wird unvermittelt auch auf die
Beurteilung der übrigen Arzneimittel übertragen. Als der Bundesgesundheitsminister in
einer Rede vor dem Deutschen Bundestag die Nichteinführung der sogenannten Positivliste
begründen wollte, erklärte er, daß der Verzicht auf die Präparate mit nicht
vorhandener oder umstrittener Wirksamkeit dazu führen würde, daß die "sanfte
Medizin durch chemisch harte Medizin" ersetzt würde. Nicht nachgewiesene Wirksamkeit
wird einfach mit "sanft", nachgewiesene Wirksamkeit mit "chemisch
hart" gleichgesetzt. Ohne Begründung werden die nicht für die Positivliste
vorgeschlagenen Medikamente in seinem Referat auch als Naturheilmittel bezeichnet. Dabei
wurde vom ministeriellen Redenschreiber übersehen, daß die sogenannten Naturheilmittel
der besonderen Therapieverfahren ohnehin ungeprüft in die Liste aufgenommen werden
mußten.
Gegen die Gewöhnung an die Missachtung der Wissenschaft
Aus vielerlei Gründen sind Mißbrauch und Mißachtung der Wissenschaft nicht
wertneutral. Verantwortungsvolle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dürfen dieses
nicht widerspruchslos hinnehmen. Hierzu hat sich Karl Jaspers geäußert, der wohl
bedeutendste Philosoph dieses Jahrhunderts, der aus der Medizin kam. Anläßlich der
ersten Rektoratswahl in Heidelberg nach dem Kriege, noch im Jahre 1945 übrigens an dem
Tag, an dem dort auch die Medizinerausbildung wieder aufgenommen wurde hielt Jaspers
einen Vortrag über die Erneuerung der Universität. Er führte aus, daß der Einbruch des
Nationalsozialismus in die Medizin nicht hätte stattfinden können, wenn die beiden
Pfeiler Wissenschaft und Humanität fest gewesen wären. Ein Strom von
Unwissenschaftlichkeit sei durch den größeren Teil der wissenschaftlichen und auch der
medizinischen Literatur hindurchgegangen. Dieser Geist der Unwissenschaftlichkeit erst
habe dem Nationalsozialismus die Tore geöffnet. Aus dem Bereich der Medizin sind die
überwiegend auf Schwindel beruhende Rassenlehre mit ihrem pseudowissenschaftlichen Mythos
oder auch große Teile der in der Zeit des Nationalsozialismus gültigen Vererbungslehre
zu nennen. Der Vortrag von Jaspers zur Neugründung der Universität nach Krieg und
Zusammenbruch endet mit den Worten, daß Wissenschaftlichkeit und Humanität unlösbar
verbunden sind, und daß die Unwissenschaftlichkeit der Boden der Inhumanität ist.
Ein Jahr später, im Jahre 1946, hat Jaspers sich noch einmal mit der Wissenschaft im
Hitlerstaat befaßt und versucht, die Hintergründe und Methoden zu durchschauen, mit
denen die Wissenschaft derart schnell und konsequent ausgeschaltet wurde. Als ersten Grund
führte er an, daß die Universitäten ihrer Selbstverwaltung beraubt wurden und daß
Rektoren vom Minister und Dekane vom Rektor ernannt wurden. Als weiteren Grund nannte er,
daß Studenten und Dozenten durch zeitraubende, zerstreuende und entnervende Dienste von
Arbeit und Studium ferngehalten wurden. Als dritter Grund wurde von Jaspers genannt, daß
Ernennungen von Wissenschaftlern über die Partei erfolgten, wobei die qualifizierenden
Eigenschaften Redebegabung, forsches Auftreten, Lernfähigkeit, Rücksichtslosigkeit und
Charakterlosigkeit waren. Wir wollen uns vor allzu vordergründigen Analogien zur
Gegenwart hüten, aber so manche vorsichtige Assoziation drängt sich doch auf. Dies gilt
insbesondere für den vierten und nach meiner Sicht wichtigsten der von Jaspers genannten
Punkte. Er führt nämlich aus, daß der Zustand der Wissenschaftlichkeit schon vor 1933
sehr brüchig war. Selbstanklagend sagt er, daß "wir, die wir vor 1933 die
Wissenschaft vertraten, nicht aus dem ganzen Ernst der Verantwortung die genügende
Energie aufbrachten, für die Echtheit der Wissenschaften erziehend, anklagend,
anspornend, mit durchschlagender Vehemenz uns einzusetzen". Auch an den
Universitäten lebten die Wissenschaften schon vor 1933 in einem Strom von
Unwissenschaftlichkeit. So wurde also der Sturz der Wissenschaften im
nationalsozialistischen Staat erst durch die vorher verbreitete Unklarheit darüber, was
Wissenschaft ist, ermöglicht, durch die Unwissenschaft im alltäglichen Urteilen,
durch die Gewöhnung an den Mißbrauch der Wissenschaft.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle zögere ich nicht, auf Analogien hinzuweisen. Die
Gewöhnung an Mißbrauch und Mißachtung der Wissenschaft ist heute keineswegs geringer
als in den Zeiten vor und während des Nationalsozialismus. Bevor ich hierzu Beispiele aus
der Gegenwart nenne, möchte ich noch einmal aus einem Vortrag von Karl Jaspers zitieren,
nicht zuletzt, weil in diesem Vortrag aus dem Jahre 1950 unsere Deutsche Gesellschaft
für Innere Medizin genannt wird. Jaspers setzt sich in diesem Vortrag kritisch mit der
Psychoanalyse und mit dem Dogmatismus dieser Lehre auseinander. Er nennt verschiedene
Erscheinungen, die die Psychoanalyse als unwissenschaftlich erkennen lassen, und führt
dann aus: "Sieht man dann, wie etwa auf dem Wiesbadener Internistenkongreß 1949
solche Dinge ernst genommen wurden, so kann man wohl ins Staunen geraten."
Daß Jaspers als Beispiel der Unwissenschaftlichkeit ausgerechnet die Psychoanalyse nennt,
läßt aufhorchen. Blättert man aber den Kongreßband aus dem Jahre 1949 durch, dann wird
dieses sehr schnell verständlich. Weite Teile des Kongreßberichtes erinnern in fataler
Weise an die Schriften von Paramedizinern. Die Psychosomatik tritt mit einem
bemerkenswerten Anspruch auf. Sie läßt an der Deutung über Pathogenese und Therapie
vieler Erkrankungen keine Zweifel aufkommen. Immer wieder wird das Ulkus genannt, und es
werden apodiktisch gemeinsame Charaktereigenschaften aller Ulkuskranken hervorgehoben.
Victor von Weizsäcker behauptet zum Beispiel in einem Vortrag, daß Eheprobleme und
andere Konflikte "zur Pathogenese des Ulkus gehören wie das Wasser zum Blut und das
Eiweiß zur Zelle." Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang seine Aussage, daß die
psychosomatische Forschung sich von den fragwürdigen Methoden statistisch nachgewiesener
Erfolge fernhalten und stattdessen in der "anthropologischen Verantwortung"
bleiben solle. Die psychosomatische Heilkunde wetteifere mit der "institutionell
gewordenen Schulmedizin." Dies alles klingt völlig austauschbar mit heute noch
geübten Argumentationsstrukturen der Paramedizin.
In Vorwegnahme dessen, was heute "Binnenanerkennung" genannt wird, hat von
Weizsäcker der wissenschaftlichen Medizin das Recht bestritten, die Erfolge und die
Heilmethoden der Psychotherapie zu beurteilen: "Die psychosomatische Medizin
kritisiert sich selbst." Allein Paul Martini, einer der frühen Protagonisten der
strukturierten klinischen Studie als Basis des Erkenntnisgewinns, erhebt auf dem Kongreß
deutlichen Einspruch gegen den "Totalitätsanspruch der Psychotherapie" und
erklärt: "Weder eine sogenannte naturwissenschaftliche noch die wissenschaftliche
noch auch die psychosomatische Medizin können ihre eigenen Gesetze ihrer Methodologie und
Kritik ihrer Heilerfolge selbst erlassen. Diese Gesetze sind präexistent, und zwar sind
es die für uns alle verbindlichen Gesetze der Logik und der Erkenntnistheorie."
Das Staunen von Jaspers über die Vorgänge auf dem Internistenkongreß 1949 ist also
durchaus nachvollziehbar. Sein Staunen bezieht sich nicht nur auf die Redner, sondern auch
auf die Zuhörer und Diskutanten, denn er schreibt: "Das Maß der Anerkennung in der
Diskussion seitens der Nicht-Analytiker, die Vorsicht, als ob was dran sein könne, die
Sorge, durch radikale Verwerfung von Unwissenschaft sich zu blamieren, zeigt, wie tief die
Wirkung dieser Glaubensweisheit geht." Wenn wir hier anstelle von Psychoanalyse
Homöopathie oder Anthroposophie setzen, ist die Analogie unübersehbar. Es könnte ja
etwas dran sein! Man könnte sich ja blamieren, wenn man die Homöopathie als
unwissenschaftlich radikal verwirft! Wieviele Wissenschaftler haben denn den Mut,
deutlich, womöglich in der Öffentlichkeit, zu sagen, daß an dem Lehrgebäude der
Homöopathie nichts wissenschaftlich Überprüfbares dran ist? Die unheilvolle Gewöhnung
an Mißachtung und Mißbrauch der Wissenschaft ist viel bequemer. Die bequeme, aber
folgenschwere Gewöhnung an die Mißachtung der Wissenschaft scheint in den 50 Jahren, in
denen die Wissenschaftler alle Freiheiten genießen konnten, nicht geringer geworden zu
sein.
Aufgrund eines Gutachtens, das sich mit der Frage der Erstattungspflicht von Leistungen
für "besondere Therapierichtungen" aus Mitteln der gesetzlichen
Krankenversicherung befaßte und in dem die Auffassung vertreten wird, daß der Begriff
der "allgemein anerkannten Regeln" sich jeweils nur auf die einschlägigen
Fachkreise zu beziehen habe, berufen sich Sozialgerichte in ihren Urteilen immer mehr auf
diese sogenannte "Binnenanerkennung." Das Bundessozialgericht hat zum Beispiel
in einem Urteil folgendes ausgeführt: "Der maßgebende allgemeine Standard kann
deshalb nur 'therapieimmanent' ermittelt werden. Als Maßstab ist sowohl der Denkansatz
der Schulmedizin als auch der der 'besonderen Therapierichtungen' heranzuziehen. Dabei
kommt es im Verhältnis zu den 'besonderen Therapierichtungen' nicht darauf an, ob deren
Denkansatz richtig oder falsch sei. Behandlungsmethoden der 'besonderen
Therapierichtungen' sind daher vom Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen dann
nicht ausgeschlossen, wenn sie innerhalb der jeweiligen Therapierichtung anerkannt
sind." Der hieraus abgeleitete Begriff der "Binnenanerkennung" ist in
mehreren Sozialgerichtsurteilen wiederholt worden.
Sowohl Juristen als auch Mediziner sollten sich schämen, daß eine derartige geistige
Verwirrung weitgehend unwidersprochen bleibt, ja fast auf dem Wege ist, zu einem Standard
zu werden. Die Vertreter der unwissenschaftlichen Medizin maßen sich selbst die exklusive
Befähigung zur Beurteilung und ggf. Anerkennung ihrer Therapieverfahren an, und diese
Anmaßung wird vom Bundessozialgericht akzeptiert. Hier müßte ein Aufschrei durch die
Wissenschaft gehen! Innerhalb der wissenschaftlichen Medizin muß sich doch jedes
Verfahren der Anerkennung sämtlicher anderer Gebiete erfreuen. Wer würde es denn
akzeptieren, daß die Hormontherapie nur von Endokrinologen und die lebensrettende
Appendektomie nur vom Viszeralchirurgen anerkannt wird? Wenn wir es recht betrachten, ist
dieser Anspruch auf "Binnenanerkennung", der ja die Überprüfbarkeit durch
Nichtbeteiligte ausschließt, der endgültige Beweis der Nichtwissenschaftlichkeit. Ich
erinnere in diesem Zusammenhang an Martinis Worte: "Die verbindlichen Gesetze der
Logik und des Erkenntnisgewinns sind präexistent."
Der Gesetzgeber hat bekanntlich unter erheblichem politischen Druck die besonderen
Therapierichtungen ausdrücklich in die Leistungspflicht der Krankenversicherungen
aufgenommen. Er hat aber, zumindest auf dem Papier, weder ihnen noch anderen Formen der
Parawissenschaft eine Sonderstellung hinsichtlich der Anforderungen an die Messung von
Qualität und Wirksamkeit am allgemeinen Stand der medizinischen Kenntnisse und dem
medizinischen Fortschritt eingeräumt. Da Wirksamkeitsnachweise bisher nicht vorliegen,
haben sich mehrere Innungs- und Betriebskrankenkassen in dem Bemühen, trotzdem auch
Leistungen der besonderen Therapierichtungen erstatten zu können, auf eine sogenannte
Erprobungsregelung berufen. Die von ihnen eingeführte wissenschaftliche Begleitung der
Erprobung wurde aber dem Zentrum zur Dokumentation für Naturheilverfahren e. V. in Essen
übertragen. Damit wurde die Binnenanerkennung quasi vorweggenommen. Diesen Schutz durch
eine Binnenanerkennung sollen in diesem Zusammenhang nicht etwa nur Verfahren mit einem
Rest an Plausibilität oder Seriosität genießen, sondern expressis verbis auch so
obskure Verfahren wie Auraskopie und Auratest, Blutkristallanalyse, ein holistischer
Bluttropfentest, elektromagnetische Bluttests, Bioelektronik und ähnliche Methoden mit
wohlklingenden Namen, aber ohne ernstzunehmenden Gehalt.
Wenn wir nicht laut und deutlich dieser Sprach- und Geistesverwirrung der sogenannten
"Binnenanerkennung" widersprechen und dieser Tendenz Einhalt gebieten, kann sich
jedes medizinische Sektierertum frei entfalten, und sogar in betrügerischer Absicht
erfundene neue Verfahren könnten ungehemmt reüssieren.
Als vor einigen Jahren auf politischen Druck auch von prominenter Seite paramedizinische
Verfahren an medizinischen Fakultäten im Lehrprogramm angeboten werden mußten, gab es
nur vereinzelte Proteste. Der einmütige und massive Widerstand der Fakultäten wurde aber
vermißt. Mühsam versucht man, die vorgeschriebenen Fragen zur Phytotherapie im
schriftlichen Staatsexamen so abzufassen, daß ein Restbezug zur wissenschaftlichen
Medizin erkennbar bleibt. Das Ergebnis ist zugleich lächerlich und ärgerlich.
Soviel ich weiß, war die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin die einzige
Gesellschaft, die widersprochen hat, als in der neuen Gebührenordnung für Ärzte die
homöopathische Anamnese auftauchte und auch noch mit der höchsten Punktzahl aller
sogenannten sprechenden Verfahren belohnt wurde. Geholfen hat unser Protest nicht, die
Regelung ist so vollzogen, und alle haben sich damit abgefunden.
Defizite im wissenschaftlichen Medizinbetrieb
Die widerspruchslose Hinnahme der Unwissenschaft im alltäglichen Urteilen und die
Gleichgültigkeit gegenüber Täuschung und Unwahrheit als Teil des medizinischen Alltags
führen zwangsläufig auch zu Unsicherheiten im Umgang mit Wahrheiten. Dies kann der
Medizin nicht guttun, und ich bin davon überzeugt, daß viele Fehlentwicklungen in der
modernen Medizin, die im Sinne Bleulers als autistisch undiszipliniertes Denken bezeichnet
werden können, mit dieser Akzeptanz der Unwissenschaftlichkeit zu erklären sind. So
führt die widerstandslose Gewöhnung an die Nicht-Wissenschaft auch zur Trübung des
Blicks im eigenen Bereich der wissenschaftlichen Medizin und damit zu einer schleichenden
Verbreitung unwissenschaftlicher Denkstrukturen auch bei solchen Ärzten und Ärztinnen,
die nicht zu den Anhängern der Paramedizin zählen. Ich möchte im folgenden einige
Strukturfragen unseres Medizinbetriebes ansprechen, bei denen ich eine Gefahr für die
Wissenschaft zu erkennen glaube.
Bei den Zielen und Inhalten klinischer Forschung wird häufig die Frage vermißt, welche
Diagnose- oder Therapieverfahren tatsächlich dem Patienten nützen. Klinische Forschung,
die diesen Zielen dient, steht leider nach wie vor in unserem akademischen Umfeld in
geringerem Ansehen als die Grundlagenforschung. Popper hat in diesem Zusammenhang einmal
von einem Mythos der sogenannten exakten Grundlagenforschung gesprochen, der keine
wissenschaftliche Überlegenheit zukomme. Gerade die klinische Forschung darf aber nicht
durch Vorurteile oder Ideologien befrachtet sein. Sie muß vielmehr methodisch sauber und
unter Beachtung wissenschaftlicher Vorgehensweisen erfolgen, insbesondere also durch die
Methode der immer wiederkehrenden Infragestellung. Eine verstärkte wissenschaftliche
Beschäftigung mit der Methodologie der klinischen Forschung, bei der statt der vertrauten
deterministischen Betrachtungsweise überwiegend Modelle mit stochastischen Komponenten
gefordert sind, wäre sehr begrüßenswert. So sind bisher kaum Methoden entwickelt
worden, mit denen die Wirksamkeit von Suggestivverfahren oder anderen Therapieansätzen
für die Behandlung von Befindlichkeitsstörungen wissenschaftlich überprüft werden
können.
Ein anderes Problem wird in vielen Publikationen erkennbar, auch in Zeitschriften mit
einem hervorragenden Panel an Herausgebern und einem international renommierten advisory
board. Es hängt möglicherweise mit dem Druck zusammen, aus Karrieregründen möglichst
viel publizieren zu müssen. Hoch entwickelte Sekundärtugenden des Wissenschaftsbetriebes
täuschen dabei nicht selten darüber hinweg, daß die gemachten Aussagen mit der
Fragestellung der Arbeit kaum zusammenhängen und nicht durch die mitgeteilten Daten
belegt sind. Es bedarf keiner Erläuterung, welche Risiken dadurch entstehen, daß solche
unsinnigen Aussagen in wissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen, wodurch sie sich mit
dem Nimbus wissenschaftlicher Seriosität umgeben.
Ein weiteres Problem liegt in der ausgeprägten Ungeduld vieler Wissenschaftler, die
leicht zur Mißachtung wissenschaftlicher Tugenden führen kann. Lassen Sie mich hierzu
ein Zitat verlesen: "Die wissenschaftliche Medizin hat in dieser Zeit des hastigen
Schaffens einen recht schweren Stand, denn die Ungeduld unserer Zeit verlangt eine
schnelle Verwertung des Geschaffenen. Die Wissenschaft braucht aber zur kritischen
Prüfung und Erfahrung Zeit. Der Laie ist schnell fertig mit dem Wort und mit dem Urteil.
Der Sachverständige weiß, wie schwer in Sachen der Medizin und gerade der Therapie ein
sicheres Urteil gewonnen wird. Daher ist nichts natürlicher, als daß die
wissenschaftliche Kritik langsamer und bedächtiger vorgeht, als es den Heißspornen
gefällt." Das Zitat, das so sehr auf unsere Gegenwart abgestimmt klingt, ist genau
100 Jahre alt, es stammt von Ernst Victor von Leyden aus seiner Eröffnungsrede zum
Internistenkongreß 1897.
Von Leyden äußerte sich auch schon zu einer anderen, wie er sich ausdrückte "wenig
erfreulichen Seite der heutigen Medizin", nämlich Auswüchsen und
Grenzüberschreitungen der Pharmaindustrie bei ihrer Werbung. Natürlich kann damals wie
heute niemand der Pharmaindustrie das Recht zur Werbung absprechen, und der Wert einer
guten Zusammenarbeit von Pharmaindustrie und medizinischer Wissenschaft kann nicht in
Frage gestellt werden. Inwieweit aber die fast vollständige Abhängigkeit der ärztlichen
Fortbildung von der Pharmaindustrie die konsequente Anwendung wissenschaftlicher Tugenden
behindert, mag jeder selbst beantworten.
Nur andeutungsweise soll erwähnt werden, wie sehr die Wissenschaftlichkeit im ärztlichen
Alltag durch den häufig beklagten ökonomischen Druck bedroht wird. EBM-gesteuertes
ärztliches Handeln sollte aber nicht etwa als eine Orientierung an der Gebührenordnung,
dem sogenannten einheitlichen Bewertungsmaßstab, mißverstanden werden. Entsprechend
einer international gebräuchlichen Abkürzung ist hiermit vielmehr eine Orientierung an
in Studien belegten Erkenntnissen gemeint, an evidence based medicine.
Eine ganz andere Bedrohung der wissenschaftlichen Denkweise in der Medizin entsteht aus
der modischen Sucht nach "Konsensus-Konferenzen" bzw.
"Konsensus-Statements". Der Soziologe Karl Otto Hondrich hat kürzlich in einem
Spiegel-Essay über die potentielle Wissenschaftsfeindlichkeit gesellschaftlicher Konsense
geschrieben. Er führt aus, wie stabil ein sogenannter Wertekonsens sei, für den der
Wahrheitssucher, also der Wissenschaftler, der schlimmste Feind sei. Dies gilt auch für
die Medizin, wo bestimmte Konsense durchaus für den wissenschaftlichen Fortschritt
hinderlich sein können. Einige solcher Konsense seien beispielhaft genannt: "Sport
fördert die Gesundheit", "Übergewicht ist schädlich",
"Screeningprogramme retten Leben" oder auch "möglichst umfangreiche und
möglichst schnelle Informationen sind immer vorteilhaft". Wissenschaftliche
Äußerungen, die einem dieser Konsense zuwiderlaufen, werden nicht selten mit einem Bann
belegt und dem entsprechenden Autor werden manchmal sogar ethische Defizite unterstellt.
Ähnliches gilt auch für manchen Konsens über bestimmte Therapieverfahren, obwohl
längst nicht alle dieser Konsense durch wissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt sind.
Die Erkenntnis über die Fehlbarkeit und Vorläufigkeit unseres Wissens muß zu einer
intellektuellen Bescheidenheit führen. Sie schließt ein dogmatisches Denken aus. Einen
unheilvollen Hang zum Dogmatismus finden wir ja sehr ausgeprägt im Bereich der
nichtwissenschaftlichen Medizin. Wir finden ihn aber natürlich auch innerhalb des
eigentlichen Medizinbetriebes. Hier sind Dogmatismus und autoritäre Wissensvermittlung
immer ein Risiko dafür, daß der Boden der Wissenschaft verlassen wird. Durch
Autoritäten und charismatische Meinungsbildner vermittelter Dogmatismus ist in unserem
sehr hierarchisch strukturierten Medizinbetrieb nach wie vor verbreitet. Ein weniger
autoritärer Umgang in den Kliniken würde wahrscheinlich die Verbreitung
wissenschaftlicher Denkstrukturen fördern.
Gedanken zum Umgang mit Parawissenschaften
Wie schon betont, kann es keine Toleranz gegenüber dem Geist der
Unwissenschaftlichkeit in der Medizin geben. Dies heißt nicht notwendigerweise, daß es
nicht eine gewisse Toleranz gegenüber der Anwendung paramedizinischer Verfahren geben
könnte, insbesondere in Fällen, bei denen die wissenschaftliche Medizin keine
angemessene Hilfe bietet.
Wie steht es aber mit den Heilerfolgen, über die immer wieder so überzeugend berichtet
wird? Die meisten diese Erfolgsberichte halten einer Nachprüfung, soweit eine solche
überhaupt vorgenommen wird, nicht stand. Für Täuschung und Selbsttäuschung gibt es
viele Gründe, die bei vorurteilsloser Betrachtung leicht erkennbar sind. Das wichtigste
Phänomen, mit dem auch die moderne Medizin die Erfolge paramedizinischer
Therapieverfahren erklären kann, ist der sogenannte Placeboeffekt. In der
Arzneimittelforschung ist der Placeboeffekt vermutlich der am gründlichsten untersuchte
Effekt überhaupt. Inzwischen sind sogar einige der körperlichen Vorgänge bekannt, die
die Placebowirkung vermitteln. Der gut in der wissenschaftlichen Medizin ausgebildete Arzt
nutzt insbesondere bei Störungen der Befindlichkeit gerne den Placeboeffekt aus, indem er
den Patienten vom Segen seiner Therapie überzeugt. Er findet in der Roten Liste auch eine
Vielzahl von Medikamenten, die wegen ihrer sehr geringen pharmakologischen Wirkung als
Beinahe-Placebo bezeichnet werden könnten und die sich daher für eine solche Therapie
eignen.
Wenn der Arzt davon überzeugt ist, daß bei einem Patienten ein Placebo genügt, und wenn
er auf diese Placebowirkung nicht verzichten will, dann käme hierfür auch die Verwendung
zum Beispiel eines Homöopathikums in Frage. Wenn auf diese Weise die überflüssige Gabe
eines risikobehafteten Medikamentes vermieden würde, könnte hiermit, genau wie zu
Hahnemanns Zeiten, sogar Gutes getan werden. Es gibt aber verschiedene Gründe, mit der
Placebogabe sehr zurückhaltend zu sein. Für den Umgang mit Befindlichkeitsstörungen
gibt es auch bessere Methoden als die Verschreibung eines Pseudomedikamentes. Es stellt
eigentlich eine Schwäche des Arztes dar, wenn er seine Placebowirkung nur mit der
Verschreibung eines Präparates erzielen kann. Dies führt immerhin dazu, daß die
Krankenkassen Kosten tragen müssen für etwas, was in Wirklichkeit ein Nichts ist. Mit
der Verschreibung verfestigt sich außerdem bei dem Patienten die Vorstellung, daß er
eine organische Erkrankung habe, was bei Befindlichkeitsstörungen häufig gerade nicht
der Fall ist. Schließlich können Placebos nicht nur mit positiven, sondern auch mit
negativen Wirkungen verbunden sein.
Der bewußte Verzicht auf die Gabe von Medikamenten mit gesicherter stofflicher
Wirksamkeit und die Anwendung eines Placebos sind nicht unwissenschaftlich und sollten
nicht als Anerkennung einer Paramedizin verstanden werden. Der Arzt handelt in solchen
Fällen aber auf einer anderen Ebene. Eine gewisse Analogie mag in der Religion gesehen
werden. Wenn ein Patient davon überzeugt ist, daß Glaube und Gebet ihm bei der
Überwindung einer Krankheit helfen, dann wird kein Arzt, auch kein eingefleischter
Agnostiker, ihn davon abhalten wollen, zu beten. Der Arzt muß allerdings darauf achten,
daß wichtige andere Therapieverfahren nicht wegen der Hoffnung auf die Heilung durch den
Glauben unterbleiben. Da wir vom Gebet aber nur die subjektive Hilfe für den Gläubigen
erwarten, werden wir die Wirksamkeit des Gebetes auch nicht in einem Doppelblindversuch
überprüfen wollen, und wir können es gut hinnehmen, daß die meisten Glaubensaussagen
nicht wissenschaftlich überprüfbar sind. In der Tat stellt die Paramedizin in mancher
Hinsicht eine Art von Ersatzreligion in unserer Gesellschaft dar.
Warum sollen wir die besonderen Therapieverfahren oder andere Erscheinungen der
Paramedizin nicht ähnlich wie Religionen behandeln? Wer Bedürfnis verspürt, mag sie
nutzen. Als Ärzte können wir dieses in bestimmten Fällen hinnehmen. Diese Toleranz gilt
aber nicht für potentiell schädliche Verfahren und nicht für die Anwendung bei
eigentlich behandlungsbedürftigen Erkrankungen. Sie gilt auch nicht für diagnostische
Verfahren, bei denen es für die damit verbundene Täuschung keine Rechtfertigung gibt.
Paramedizinische Diagnose- und Therapieverfahren sollten damit grundsätzlich keine
Angelegenheit der Sozialversicherungen sein. So wie wir zwischen Medizin und Religion
klare Grenzen kennen und beachten, so sollten wir sie auch zwischen Medizin und
Paramedizin ziehen. Wenn diese Grenzen klar sind, dann kann auch die Medizin wieder
resistenter gegenüber den Einflüssen der Unwissenschaftlichkeit werden, und wir können,
um mit Bleuler zu sprechen, das autistisch undisziplinierte Denken leichter überwinden.
Auch wenn wir neben der Medizin andere Umgangsebenen mit den Patienten akzeptieren, bleibt
es bei der Feststellung, daß wir uneingeschränkt der Wissenschaft verpflichtet sind. Der
Kampf gegen die unwissenschaftliche und dogmatische Medizin ist Pflicht eines jeden
Wissenschaftlers und einer jeden Wissenschaftlerin. Ich erinnere an die Formulierung von
Karl Jaspers unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus: "Die
Unwissenschaftlichkeit ist der Boden der Inhumanität." Für diejenigen, die am Ende
eines Vortrages gern ein Goethe-Wort hören, möchte ich abschließend den Teufel
zitieren:
"Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt."
Verfasser:
Prof. Dr. Johannes Köbberling,
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft
für Innere Medizin 1997/98,
Direktor der Medizinischen Klinik,
Ferdinand-Sauerbruch-Klinikum,
Arrenberger Straße 20,
D-42117 Wuppertal,
Telefon (02 02) 3 94 - 2 50,
Fax (02 02) 3 94 - 54 53.
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