Pica

Aberrationen des Ernährungsinstinktes. Anhaltender Verzehr nicht essbarer Substanzen wie Erde, Farbschnipsel usw.. Pica wird seit Jahrhunderten als eine Symptom unterschiedlicher Zustände und Störungen angesehen. Sie kann als eines von vielen Symptomen einer umfassenderen psychischen Störung wie Autismus auftreten oder sie kann als relativ isolierte psychopathologische Auffälligkeit vorkommen; nur das letztere wird hier kodiert. Das Phänomen ist bei intelligenzgeminderten Kindern am häufigsten. Wenn eine solche Intelligenzminderung vorliegt, ist im ICD 10 als Hauptdiagnose eine Kodierung unter F70-F79 zu verwenden. Pica ist die lateinische Bezeichnung für qualitative Appetitstörungen, welche aufgrund ihres weltweiten Vorkommens und ihrer gravierenden Komplikationsmöglichkeiten ein medizinisches Problem von großer Tragweite darstellen. Dieses Phänomen ist seit dem Altertum bekannt, jedoch durchlief es im Zuge der Jahrhunderte eine wechselvolle Begriffsgeschichte. Die DSM-IV-Kriterien bilden einen weitgespannten Rahmen, innerhalb dem eine Vielzahl von Subtypen und Sonderformen Platz finden. Die verhaltensbiologischen Grundlagen der Pica können am besten anhand von Tierbeobachtungen erschlossen werden. So können theoretisch 4 Hauptgruppen aufgrund ätiopathogenetischer Gesichtspunkte gebildet werden: Ein Mineralersatztyp, ein Rückgewinnungstyp, ein Verkennungstyp sowie ein Entgiftungstyp. Die Behandlung der Pica richtet sich in erster Linie nach dem vorliegenden Grundleiden. DSM-IV vier diagnostische Minimalkriterien: 1.)– Ständiges Essen ungenießbarer Stoffe, 2.)– das Essen ungenießbarer Stoffe ist für die Entwicklungsstufe unangemessen, 3.)– das Essverhalten ist nicht Teil einer kulturell anerkannten Praxis, 4.)– tritt die Störung des Essverhaltens ausschließlich im Verlauf einer anderen psychischen Störung (z.B. geistige Behinderung, tief greifende Entwicklungsstörung, Schizophrenie) auf, muss sie schwer genug sein, um für sich allein genommen klinische Beachtung zu rechtfertigen. Pica-Verhalten ist bei Schwerstbehinderten wohl in erster Linie auf eine Wahrnehmungs- und Diskriminationsschwäche zurückzuführen. In anderen Fällen ist eine operante Konditionierung über das einverleibte Objekt, welches als neurochemischer Verstärker wirkt, anzunehmen, so bei der Zigaretten-Pica. Unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten können bestimmte Fälle von Pica auch als Überdauern des kindlichen „Hand-zu-Mund-Verhalten“ interpretiert werden, welches vor allem unter Stressbedingungen auftritt. Bei Erwachsenen kann umgekehrt Pica als Regressionsphänomen aufgefasst werden, vor allem dann, wenn es im Rahmen von endogenen oder organischen Psychosen zum Versagen der höheren Steuerungsinstanzen kommt. Der Krankheitswert der Pica ergibt sich zum wesentlichen aus den Komplikationsmöglichkeiten. Da deren Zahl unübersehbar groß ist, können sie hier nur summarisch abgehandelt werden. Folgeschäden können je nach Art und Größe der einverleibten Objekte breit variieren. Großvolumige Fremdkörper können direkt den Bolustod bewirken, kleinere laufen Gefahr, aspiriert zu werden. Lösliche Substanzen wie Schwermetalle (Pb, Hg u.a.) führen zu Intoxikationen mit ihrer mannigfaltigen Symptomatik. Intoxikationen mit anderen Toxinen können durch seltene Sonderformen der Pica zu Stande kommen: So kann eine Backpulver-Pica in der Schwangerschaft ein Zustandsbild zeitigen, das von einer Präeklampsie kaum zu unterscheiden ist. Durch Cautopyreiophagie kann es zu einer lebensbedrohlichen Hyperkaliämie kommen, umgekehrt kann bei Lehmessern eine Hypokaliämie zu Stande kommen, welche eine diffuse Myositis nach sich zieht. Unstillbares Erbrechen kann zu Achlorhydrie mit Alkalose führen. Besonders die Geophagie birgt daneben auch die Gefahr der Infestation mit Darmparasiten (z.B. Ascaris lumbricoides, Trichuris trichiura, Toxacara canis, Giardia lamblia).Ein weiteres Kapitel bilden die Verletzungen durch spitze oder scharfe Gegenstände, wobei vom Zahnschmelz über Gingiva, Zungenmucosa, Oesophagus, Magen/Darm-Trakt bis zum Anus jede Struktur in Mitleidenschaft gezogen werden.

Formen der Pica.

Krankheitsbezeichnung betreffende Substanz
Acuphagie spitze oder scharfkantigen Gegenstände (zweckgerichtet in Strafanstalten)
Amylophagie Stärke
Cautopyreiophagie abgebrannte Zündholzköpfchen
Koniophagie Staub
Geomelophagie rohe Kartoffel, Kartoffelschalen
Geophagie Erde, Lehm
Gooberphagie Erdnüsse
Koprophagie Stulgang
Lectophagie Lattich
Lithophagie Steine, Kiesel
Onychophagie Fingernägel, Zehennägel
Pagophagie Eis, Schnee
Plumbophagie Blei, bleihaltige Farbe
Stachtophagie Asche (von Zigaretten)
Trichophagie Haare
Xylophagie Holz, Zahnstocher
Anderes: Lufterfrischer, Backpulver, Kreide, Zement, Gips, Mehl, Kohle, Papier, Salz, Seife, Zahnpasta, Gummi, Schaumstoff, Ballons, Tücher, Baumwolle, Detergenzien, Flaum, Gras, Insekten, Metall, Papier, Milchpulver, Kaffeesatz etc. In diesen Fällen wird der diagnostische Begriff aus der besagten Substanz und dem Grundbegriff zusammengesetzt, z.B. Backpulver-Pica.

 

Quellen / Literatur:

T.Knecht, Neuropsychiatrie, Band 14, Nr. 4/2000, S. 223–231, T. Knecht Pica – eine qualitative AppetitstörungSchweiz Med Wochenschr 1999;129:1287–92 Parry-Jones B, Parry-Jones WL. Pica : symptom or eating disorder ? a historical assessment. Br J Psychiatry 1992; 160 : 341 -354 A. Woywodt and A. Kiss Geophagia: the history of earth-eating J. R. Soc. Med., January 3, 2002; 95(3): 143 – 146. [Full Text] [PDF] P. Grewal and B. Fitzgerald Pica with learning disability J. R. Soc. Med., January 1, 2002; 95(1): 39 – 40. [Full Text] [PDF] M ROBERTS-HAREWOOD and S C DAVIES Pica in sickle cell disease: „“She ate the headboard““Arch. Dis. Child., December 1, 2001; 85(6): 510c – 510. [Full Text] [PDF] M. G. Tordoff Calcium: Taste, Intake, and Appetite Physiol Rev, October 1, 2001; 81(4): 1567 – 1597. [Abstract] [Full Text] [PDF] E. Simpson, J D. Mull, E. Longley, and J. East Pica during pregnancy in low-income women born in Mexico West J Med, July 1, 2000; 173(1): 20 – 24. [Abstract] [Full Text] M. Goldstein Adult Pica: A Clinical Nexus of Physiology and Psychodynamics Psychosomatics, October 1, 1998; 39(5): 465 – 469. [Full Text Smulian JC, Motiwala S, Sigman RK. Pica in a rural obstetric population. South Med J 1995;88:1236-1240 Eating-disorder.org- Pica.html

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur