Balintsyndrom

1909 berichtete Reszö Bálint über einen Patienten, der nach zweimaligen, plötzlichen Schwindelanfällen (bei vollem Bewusstsein) deutliche Sehstörungen sowie Probleme in der Kontrolle seiner dominanten rechten Hand bemerkte, infolge derer er weder lesen noch schreiben konnte und zahlreiche Probleme bei der Bewältigung von Alltagsaktivitäten hatte. Der japanische Augenarzt Tatsuji Inouye hatte bereits zuvor unabhängig davon an Soldaten des Boxeraufstandes 1900 und des Russisch-Japanischen Krieges 1904–5 ähnlich Symptome in einer deutschen Veröffentlichung beschrieben. Gordon Holmes beschrieb später 6 Soldaten mit Schussverletzungen, die zu einem ähnlichen Syndrom geführt hatten . Die Benennung erfolgte 1954 durch Hécaen und De Ajuriaguerra in einer eigenen Beschreibung von 4 Patienten um den ungarischen Neurologen Balint zu ehren, manchmal wird es auch Balint Holmes Syndrom genannt. Balint stellte folgende Symptome als typisch für das von ihm beschriebene Syndrom heraus: 1. die Unfähigkeit, die verschiedenen einzelnen Elemente, die eine visuelle Szene zusammensetzen, als Ganzes wahrzunehmen (räumliche Störung der Aufmerksamkeit oder Simultanagnosie = pathologische Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, Störungen der räumlichen Orientierung), 2. eine Störung von Handbewegungen unter visueller Kontrolle (Visuomotorische oder optische Ataxie) und 3. die Unfähigkeit zielgerichtete Augenbewegungen auszuführen (Störung der visuellen Aufmerksamkeit, die Augen können nicht gezielt auf neue Reize gerichtet werden, Störung der intentionalen Exploration des Raumes, Seelenlähmung des Schauens). Balints Patient hatte ein linksseitiges Hemineglektsyndrom: er nahm Annäherungen von links oder von hinten nicht wahr, sein Aufmerksamkeitsfokus war um 35-40° ins rechte Halbfeld verschoben. Wenn er aufgefordert wurde nach links zu schauen, konnte er dort im Augenblick auch sofort und immer dargebotene Objekte sehen und erkennen, aber die Aufmerksamkeit für die linke Seite ließ dann sofort nach. Es kommt beim Balintsyndrom durch beidseitige Parietalhirnläsionen zum Verlust der Reizentdeckung, der visuellen Exploration und Orientierung im gesamten Gesichtsfeld da die okulomotorischen Such- und Abtastbewegung stark beeinträchtigt sind. Balint-Syndrom ist eine ebenso seltene wie schwerwiegende neurologische Erkrankung, welche die betroffenen Personen derartig einschränkt, dass sie sich oft wie Blinde bewegen. Das erstmals von R. Balint beschriebene und nach ihm benannte Krankheitsbild tritt zumeist nach bilateralen posterior-parietalen Läsionen vaskulärer und demyelinisierender Art auf. Auch bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankeit und im Rahmen von HIV- Infekten tritt es gehäuft auf. Da es sich um ein seltenes Syndrom handelt, besteht die Literatur überwiegend aus Falldarstellungen. Aktuelle Studien gehen eher davon aus, dass die einzelnen Defekte nicht unbedingt gemeinsam auftreten müssen und untersuchen deshalb meistens die Einzelaspekte des Syndroms. Die Existenz als Syndrom wird zudem in Frage gestellt, so lässt sich eine Simultanagnosie von einer optischen Ataxie abgrenzen, Okuläre Apraxien kommen auch ohne visuospatiale Defizite vor, sind umgekehrt selbst auch bei dem Syndrom oft nicht vorhanden. Smultanagnosie und optische Ataxie gelten in der neueren Literatur als weite Kategorien, die sich aus anderen mehr spezifischen Defekten zusammensetzen. Viele der Patienten, die mit einem Balintsyndrom beschrieben wurden, weisen zudem Verhaltensauffälligkeiten auf, was die Testung erschwert und die Aussagekraft der Tests einschränkt.

 

Quellen / Literatur:

M Rizzo, S P Vecera, Psychoanatomical substrates of Bálint’s syndrome, J Neurol Neurosurg Psychiatry 2002;72:162–178

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur