Cajal-Dogma

Anfang des Jahrhunderts kam der spanische Neurowissenschaftler Santiago Cajal zu dem Schluss, dass das menschliche Gehirn nicht zur Regeneration von abgestorbenen Nervenzellen in der Lage ist. Nach Ansicht von Daniel Lowenstein und Jack Parent von der kalifornischen Universität in San Francisco gibt es zahlreiche Hinweise auf eine Regenerationsfähigkeit von Neuronen und damit auf (potentielle) Selbstheilungskräfte des Gehirns (Science 1999; 283: 1126-1127). Dass dies auch in vivo passiert, dafür gibt es, wie die Autoren zugeben müssen, keinerlei Hinweise. An menschlichen Hippokampuszellen konnte Parent nachweisen, dass diese Zellen Axone bilden, die Hunderte von Mikrometern entfernte Ziele außerhalb der Zona granulosa ansteuern. Im menschlichen Gehirn seien darüber hinaus Wachstumsfaktoren nachweisbar, welche diese Regenerationsfähigkeit möglicherweise stimulieren. Warum gibt es im menschlichen Gehirn Wachstumsfaktoren und Stammzellen, wenn sie keine Aufgabe haben, fragen die Autoren. Die klinische Relevanz der Ergebnisse der Grundlagenforschung ist bisher noch unklar. Der Homunkulus scheint aber durch die moderne Forschung Medizingeschichte geworden zu sei. fMRI- Bilder zeigen, dass es überlappende Repräsentanten der einzelnen motorischen Gebiete in der Hirnrinde gibt. In ihrer Aktivität überlappen nicht nur die für einzelne wichtige Gebiete zuständigen motorischen Regionen einzelner Hirngebiet der selben Hirnseite, es kommt auch zu einer Aktivierung der Gegenseite und der für die Sensibilität zuständigen Hirngebiete. Komplexe Netzwerke von Nervenzellen statt einzelner Hirnregionen sind mehr in das Interesse der Forscher gerückt. Für die Funktion des Gehirns scheinen weniger die Anzahl der Nervenzellen, als die Zahl deren Verknüpfungen wesentlich. Die Verminderung der Anzahl der Nervenzellen scheint manchmal sogar Bedingung für deren gute Funktion. Dabei ist das Wechselspiel zwischen Erregung in einer Hirnregion und gleichzeitiger Hemmung in einer anderen Region entscheidend. Für eine gute reibungslose Funktion des Gehirns ist Bedingung, dass bei es bei jeder Aktivierung eine Hemmung an anderer Stelle gibt. Die Verknüpfungen der Nervenzellen (Synopsen) ist entscheidend für die Speicherung komplexer Informationen und Gefühle. Erfahrungen und Lernen ebenso wie traumatische Ereignisse führen so zu Substanzveränderungen im Gehirn, die mit neuen bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden können. An den Synapsen werden durch spezielle Überträgerstoffe (Transmitter) Informationen von einer Nervenzelle and eine andere vermittelt. Die Aktivierung von Synapsen führt zur Freisetzung kleiner Mengen des an sich giftigen Gases NO. Dieses wiederum sorgt dafür, dass bei einem ähnlichen Reiz in kurzer Folge diese und ähnliche Synapsen in der Umgebung schneller reagieren und beschleunigen und verbessern damit die Reaktion auf einen Umweltreiz. Werden Synapsen häufig erregt, treten sie in eine Art Dialog mit dem dazugehörigen Zellkern der Nervenzelle, dabei verändern sich nicht nur die Erbinformationen der Nervenzelle, auch die Genexpression und die von der Zelle ausgeschütteten Eiweiße verändern sich. Die Rolle der Vielzahl der Eiweiße die von menschlichen Zellen synthetisiert werden ist noch nicht genau bekannt. Sicher ist, dass sie eine wichtige Rolle in den höheren Funktionen unseres Menschseins spielen. Die Bedeutung wird auch dadurch deutlich, dass sich die Gene und damit auch der Bauplan des Körpers wie des Gehirns zwischen Menschen und Affen zu 98% gleichen, dass aber Menschen offensichtlich wesentlich mehr die Produkte dieser Gene (eben bestimmter Eiweiße) nutzen. Erfahrungen und Erlebnisse verändern damit nicht nur die Anzahl und den Ort der Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, sie verändern auch die Gene der Zelle und die wichtige Funktion dieser Gene. Auch über diesen Mechanismus werden Erfahrungen zu bleibenden immer besser sichtbar zu machenden Teilen der Person. Lernvorgänge führen zum Anschalten von Genen, die sonst nicht genutzt würden. Eine multimodale Stimulation verstärkt damit neuronale Netze, vorausgesetzt sie verursacht nicht zuviel Stress und überfordert nicht. Eine interessante Umwelt und die Gesellschaft von Menschen fördert damit nicht nur die Verschaltung der Synapsen sondern verändert auch die Genaktivität der einzelnen Nervenzellen. Eintönigkeit behindert die auch beim Erwachsenen wichtige Gehirnentwicklung. Nicht benutzte Synapsen bilden sich auch teilweise wieder zurück. In der Summe kann man deshalb sagen, unsere Gene prägen uns zwar in vielerlei Hinsicht, wir sind aber nicht die Sklaven unserer Gene.

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur