Gestaltpsychologie

Etwa zeitgleich mit der behavioristischen Revolution der Psychologie, die in Amerika ihren Anfang nahm, gab es eine weitere, die ebenfalls radikal dem Strukturalismus und Funktionalismus eine Absage erteilte, allerdings auf eine völlig andere Weise: 1912 proklamierte der Deutsche Max Wertheimer die Gestaltpsychologie. Die zentrale Annahme dieser Schule lautet, dass einem aus Teilen zusammengesetzten Bewusstseinsprozess eine Qualität zukommt, die die Summe der Einzelteile nicht hat — eben die Gestalt. Ursprünglich befasste sich die Gestaltpsychologie vor allem mit Wahrnehmungseffekten, vor allem dem Phi-Phänomen: Zwei Lichter, die nahe beieinander angeordnet sind und kurz hintereinander kurz aufblinken, werden als ein Licht wahrgenommen, das sich vom Ort des ersten zum Ort des zweiten bewegt. Die Gestaltpsychologie schließt aus diesem Effekt, dass unsere Erfahrungen von den Mustern abhängen, die von Reizen gebildet werden und davon, wie unsere Erfahrungen organisiert sind. Das Ganze besteht nicht nur aus Teilen, sondern aus Teilen und deren Beziehung zueinander. Die Gestaltpsychologen lehnten die Introspektion als Hauptmethode ebenso ab wie die Behavioristen, bekämpften jene jedoch trotzdem entschieden: Die Gestaltpsychologie verlangte eine als „Phänomenologie“ bezeichnete Form der Erkundung, die es unternahm, Menschen nach ihren subjektiven Wahrnehmungen und ihren Urteilen zu befragen und diese Antworten als Daten der Forschung zu behandeln. Wegen dieser Vorgehensweise ist gestaltpsychologische Forschung überwiegend qualitativ, im Gegensatz zur quantitativen des Behaviorismus. Aus diesem Grund ist die Gestaltpsychologie oft als vage und unwissenschaftlich abgelehnt worden. Dennoch hat die Gestaltpsychologie durch ihre Betrachtungsweise wichtige Anstöße für viele heute aktuelle Erkenntnisse und Forschungsthemen geliefert. (nach Stangl)

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur