Grundstörung

In seinem Buch ,,Die Urform der Liebe und die Technik der Psychoanalyse“ weist M. Bahnt (1965) darauf hin, dass die klassische Theorie der Psychoanalyse eigentlich eine ,,Einkörper-Psychologie“ ist. Er führt aus: ,,Fast alle unsere Bezeichnungen und Begriffe stammen aus dem Studium pathologischer Formen und gehen kaum über die Region der Ein-Körper-Psychologie hinaus. Deswegen kann sie nur eine grobe, annähernde Beschreibung dessen liefern, was in der psychoanalytischen Situation geschieht, die doch im wesentlichen eine Zwei-Personen-Situation ist“. Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie hat ihr Forschungsinteresse in immer stärkerem Ausmaß den frühen Objektbeziehungen zugewandt. Balint (1970) spricht deshalb von ,,zwei Ebenen der analytischen Arbeit“, die sich einerseits mit Hilfe der ’ klassischen analytischen Technik – durch Deutung von Übertragung und Widerstand – auf der Ebene der Ödipalproblematik bewegt, andererseits aber in frühe Bereiche der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung vorzustoßen sucht. Er nennt diese Ebene die der ,,Grundstörung“ und beschreibt sie wie folgt: ,,Die Hauptmerkmale der Ebene der Grundstörung sind: 1. dass alle in ihr sich abspielenden Vorgänge zu einer ausschließlichen Zwei-Personen-Beziehung gehören – es gibt dabei keine dritte Person; 2. dass diese Zwei-Personen-Beziehung sehr eigenartig und gänzlich verschieden ist von den wohlbekannten menschlichen Beziehungen auf der ödipalen Stufe; 3. dass die auf dieser Ebene wirksame Dynamik nicht die Form eines Konfliktes hat. Die Grundstörung entwickelt sich nach Balint auf einer sehr frühen Ebene der ,,Objektbeziehung“, die er , ,primäre Liebe“ genannt hat. Diese ist dadurch charakterisiert, dass die Mutter vom Säugling noch nicht als eigenständige Person, sondern als ein bedürfnisbefriedigendes Wesen wahrgenommen wird, das noch ein Teil des kindlichen Selbst ist. Da jedoch die Entwicklung dieser frühen Objektbeziehung zwischen Mutter und Kind ein dynamischer Prozess ist, entspricht der primären Liebe des Kindes auf der Seite der Mutter eine ,,primäre Mütterlichkeit“, die Winnicott (1958) beschrieben hat. Balint (1970) meint, dass Arzt und Patient manchmal auf diese Ebene regredieren müssen, der Arzt dem Patienten einen ermöglichenden Raum schaffen sollte, damit der Patient einen ,,Neubeginn“ wagen kann. Er schreibt: ,,Wenn es dem Analytiker gelingt, auf die primitiven, unrealistischen Wünsche des Patienten auf die rechte Weise zu antworten, kann ihm geholfen werden, die bedrückende Ungleichheit zwischen sich und seinem Objekt zu verringern. Mit dem Schwinden dieser Ungleichheit kann auch die Abhängigkeit vom Primärobjekt, die der Patient in der Phase des ,,Neubeginns“ wieder aufleben ließ, ebenfalls beträchtlich nachlassen oder sogar gänzlich aufhören. Wenn die Ungleichheit und die damit zusammenhängende Abhängigkeit reduziert werden, ist die Abwehr gegen sie nicht mehr nötig, der Hass kann weitgehend aufgegeben werden, und die aggressiven, destruktiven Impulse lassen nach. “ H. Thomä meint im Gegensatz zu Balint, zu dem Schluss, dass der ,,Neubeginn“ kein plötzliches und einmaliges Ereignis, sondern Teil eines kontinuierlichen, immer wiederkehrenden therapeutischen Prozesses sei, den man dem Durcharbeiten an die Seite zu stellen habe.

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur