Klassifikationskategorien

Die psychiatrische Nomenklatur hat sich in den letzten Jahrzehnten mit der Entwicklung von operationalen standardisierten und allgemein akzeptablen diagnostischen Kriterien und Systemen erheblich weiterentwickelt. Historisch 1893 Klassifikation der Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen (Bertillon) mit Revisionen alle 10 Jahre. 1945 Gründung der Vereinten Nationen (UN) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und damit Erweiterung zur ICD-Klassifikation. Der Durchbruch kam Ende der siebziger Jahre mit der Veröffentlichung der ICD-9 und kurz darauf, im Jahre 1980, mit der Veröffentlichung des DSM-III. Allerdings erfreuten sich beide diagnostischen Systeme unterschiedlicher Beliebtheit. Das DSM-III erleichterte die empirische Forschung viel deutlicher als die ICD-9 . Der Beginn der neunziger Jahre brachte das DSM-IV (Americ.Psychiatr. Ass. 1994) und die ICD-10 (Dilling et al. 1990). Das neue und besondere am DSM-IV ist der große empirische Hintergrund des Manuals. Durchsicht der Literatur, Reanalyse der Datensätze, Fallstudien und andere Arten empirischer Arbeit wurden vorher durchgeführt, die dann in dem DSM-IV-source-book in fünf Bänden veröffentlicht wurden. Das Kapitel über psychische Störungen in der ICD-10 wurde dreimal umfangreicher als das in der ICD-9. Die Dichotomie Neurose und Psychose wurde weitgehend aufgegeben, wie es schon im DSM-III der Fall war. Zielsetzungen von ICD-10 und DSM-IV war die Verbesserung der diagnostischen Reliabilität durch operationalisierte Diagnostik, es wurden Konkrete und detaillierte Kriterien (z.B. Verhaltensauffälligkeiten, Symptome, Zeit- und Verlaufsmerkmale, soziale Kennzeichen, Schweregrad) eingeführt und Entscheidungsregeln (Algorithmen) mit Hilfe von Ein- und Ausschlußkriterien aufgestellt. Dabei wurde auf umstrittene ätiologische und theoretische Modelle verzichtet. Ziel war die wissenschaftliche Orientierung mit einem deskriptiven Ansatz um dadurch eine breitere Akzeptanz bei Berufsgruppen unterschiedlicher Orientierung zu erreichen. Möglich wurde dadurch eine breitere Anwendbarkeit für klinische, administrative und wissenschaftliche Zwecke. ICD-10 und DSM-IV berücksichtigen keine psychodynamischen Ansätze mehr. Sie verzichten auf theoretische Neurosenkonzepte (die früheren Neurosen werden jetzt als affektive, Angst- und somatoforme Störungen klassifiziert). Die Trennung Neurose – Psychose wird aufgegeben. Ätiologische Annahmen gelten nur noch bei Anpassungsstörungen, Posttraumatische und akute Belastungsstörung, Substanz-induzierte psychischen Störungen und Organisch bedingte psychische Störungen. Terminologisch ersetzt jetzt der Begriff Störung den früher verwendeten Begriff Krankheit. Multiaxiale Diagnostik nach DSM-IV Achse I: Klinische Syndrome , Achse II: Persönlichkeitsstörungen Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren, Achse IV: Psychosoziale, /Umgebungsbedingte Probleme Achse V: Psychosoziales Funktionsniveau. Probleme der Klassifikation (wie z.B. dem oben zitierten ICD) (psychiatrischer Diagnosen, warum es hier großer Sorgfalt bedarf) Eine Klassifikation ist mit dem Verlust spezifischer, individueller Information verbunden. Die Verwendung von Klassifikationskategorien führt mitunter ungerechtfertigt zu einer Diagnose; Genau dann, wenn man über das beobachtete Verhalten hinausgeht, das an eine Diagnose erinnert und Teil einer diagnostischen Kategorie ist und es vom Diagnostiker subjektiv ergänzt wird (passend zur diagnostischen Kategorie gemacht wird), obwohl für die ergänzten Merkmale keine Beobachtungen / Bestätigungen vorliegen. Klassifikationen können Menschen stigmatisieren. Fatal sind stigmatisierende Effekte bei Fehl- oder bloßen Verdachtsdiagnosen. Klassifikationssysteme sind vorwiegend kategorial und widersprechen der Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung bzw. verschiedener Intensitäten einer Störung oder auch kontinuierlicher Übergänge zwischen verschiedenen Die klinische Einschätzung eines Patienten ist weder in der Psychiatrie noch in der Psychotherapie eindeutig und intersubjektiv verbindlich . Es kommt dabei zu einem komplexen Zusammenspiel von Wissen auf verschiedenen Ebenen und Schlussbildungen, deren Endergebnis man als die „Subjektive Theorie“ des Diagnostikers über diesen Patienten bezeichnen könnte. Subjektive Theorien beinhalten das Wissen, die Vorstellungen, Auffassungen und Meinungen zu bestimmten Sachverhalten eines Menschen, die für ihn relevant sind. Sie sind nach GROEBEN ET AL. (1988, S. 19) komplexe Aggregate von Konzepten mit impliziter Argumentationsstruktur, und zwar sowohl deduktiv-analytische Schlussformen als auch solche, die neues „Wissen generieren“. Zwischen „Subjektiven Theorien“ und „Objektiven Theorien“ besteht ein enger Zusammenhang in Form einer Strukturparallelität. Um Subjektive Theorien zu erforschen, müssten in Parallelität zu wissenschaftlichen Theorien inhärente Konzepte wie subjektive Problemstellungen, Konstrukte, Erklärungen, Prognosen erfasst werden. Zwischen beiden Theoriesystemen besteht ein Austausch, und es kann dabei zu Veränderungen der objektiven Theorie kommen, in dem Sinne, dass es zu einer Angleichung der objektiven Theorie an die subjektive kommen muss, um sie für Anwender akzeptabler zu machen. Optimalerweise findet zwischen beiden gegenseitige Kritik statt. Wegen ihrer hohen Rationalität können subjektive Theorien als objektive wissenschaftliche Theorien übernommen werden (vgl. GROEBEN ET AL. 1988, S. 309) „Weil Psychisches, also die Inhalte des Erlebens und Bewusstseins, nur dem einzelnen Subjekt direkt zugänglich ist, können darüber subjektive Theorien leichter und auf einer umfassenderen Grundlage ausgebildet werden, als es der Wissenschaft möglich ist. Da außerdem Wissensbestände über psychische und soziale Gegebenheiten für die alltägliche Lebensgestaltung von großer Bedeutung sind, und das Individuum auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann, sind subjektive Theorien in diesem Bereich zumindest potentiell differenzierter und untereinander im höherem Maße vernetzt als objektive wissenschaftliche Theorien.“ (BECKER/OLDENBÜRGER/PIEHL 1987, S. 460) Klassifikationssysteme machen Diagnose seelischer Störungen „objektiver“, persönliche und theoretische Überzeugungen des Diagnostikers spielen aber bei der diagnostischen Entscheidung weiter eine große Rolle. Kategorien. Warum man sie dennoch braucht: Sie sollen Entscheidungsregeln für deskriptive (beschreibende), möglichst interpretationsfreie Befunde geben. Hieraus können z.B. Leitlinien für Diagnostik und Behandlung wie oben entwickelt werden. Die psychiatrische Forschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Aus diesen resultierten enorme Verbesserungen der Behandlungsmöglichkeiten. Beispielsweise bei den Angststörungen und Zwangsstörungen waren diese erst durch Verbesserung der Klassifikationen möglich..In ihren neuesten Versionen (DSM-IV und ICD-10) wurde eine weitere Angleichung und Übertragbarkeit der diagnostischen Kategorien angestrebt. Gegenüber früheren Versionen beider Systeme wurde zunehmend mehr auf die Verknüpfung der Diagnoseklasse mit ätiologische Annahmen verzichtet . Dadurch ist von verschiedenen Schulrichtungen die selbe Einteilung verwendbar. Damit werden auch deren Ergebnisse vergleichbar. Die Begriffe der diagnostischen Klassifikation z.B. ICD-10 spiegeln keine Wahrheiten, sondern den aktuellen Konsens von berufspolitischen und wissenschaftlichen Gruppierungen wider. Der aktuelle Konsens stammt aus der amerikanischen Psychiatrie.

 

Quellen / Literatur:

G. Rudolf Vorteile und Risiken der Klassifikation Vortrag am 22. April 2002 bei den 52. Lindauer Psychotherapiewochen

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur