Ödipus-Komplex

Ödipus-Komplex (psychoanalyt.) Komplex, der infolge fehlender od. unvollständiger Lösung der Bindung des Sohnes an die Mutter entsteht; die duale Beziehung zur Mutter wird mit 3-6 Jahren durch eine Dreiecksstruktur abgelöst: der Vater spielt jetzt eine bedeutendere Rolle. Jungen im Alter von vier bis fünf Jahren haben nach dieser Theorie aufgrund des Erwachens erster sexueller Wünsche eine starke sexuelle Bindung zu ihren Müttern auf. Als Reaktion sieht der Junge seinen Vater als einen Rivalen, dessen Rache wird gefürchtet, was zu Kastrationsängsten führen kann (Geschichte vom kleinen Hans). Kastrationsangst und Inzesttabu sind die notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung des Ödipuskomplex. Das Akzeptieren des väterlichen Verbots ist zugleich mit einer Identifikation mit dem Vater (und seiner Männlichkeit) verbunden, damit auch einem Zugewinn an Selbstwertgefühl. Das Inzestverbot, das zum „Untergang des Ödipuskomplexes“ führt, ist aus analytische Sicht Bestandteil aller Kulturen. Kann die Lösung nicht erfolgen spricht man von einer `Fixierung` die von der Libido vorgeschriebene Progression auf eine andere Entwicklungsstufe findet nicht statt, (Fixierung auf einer Stufe)( Poluda-Korte Forum Psychoanal (1999) 15:101–119) Bei Frauen wird vom Elektra-Komplex gesprochen. Unter einem Komplex versteht man Gedächtnisinhalte, die miteinander und mit ähnlichen Erlebnis- und Gefühlsinhalten verknüpft und ins Unterbewusstsein verdrängt sind und so bestimmte Handlungs- und Wahrnehmungsmuster verfestigen. Freud ging von einer universellen ödipalen Entwicklungsstufe (die auch heute noch analytisch für alle Kulturen angenommen wird) aus, nicht zuletzt auf Grundlage seiner Selbstreflexion:“ Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit“.. Die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt.“.. Der frühe Ödipuskomplex Melanie Klein (Klein M (1928) Frühstadien des Ödipuskonfliktes. Int Z Psychoanal 14:1) datiert den frühen Ödipuskomplex schon mit 6 Monaten (übrigens der Zeitpunkt, zu dem Freud die Wende zum Oralsadismus vermutete), während Margret Mahler (1968 On human symbiosis and the vissitudes of individuation. Int Univ Press,New York ) meint, der Geschlechtsunterschied werde dem Kleinkind erst 1 Jahr später, also mit 18 Monaten bewusst. Im Verlauf eines Prozesses, in dem das Kind selber laufen, selber essen und selber den Topf zu benutzen lernt und ein eigenständiges Körperschema mit der Repräsentanz eines eigenen Geschlechtsorgans entwickelt, realisiert es, dass DAS Liebespaar nicht länger Mutter und Kind heißt, sondern sich als Mutter und Vater herausstellt. Manche psychoanalytische Richtungen stellten die menschliche Entwicklung von Anfang an in den Rahmen einer Dreierbeziehung und verbinden den Ödipuskomplex eng mit dem Auseinanderbrechen der Mutter-Kind-Symbiose und der Erfahrung der Urszene. Freud sah die Inzestwünsche erst in der frühen genitalen Phase (3.–6. Lj.) Empirische Untersuchungen haben erwiesen, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu einem von zwei Geschlechtern bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres so geprägt ist, dass es ab da irreversibel festliegt. Es ist dies der Moment, den die griechische Mythologie als den Ursprung des geschlechtlichen Eros darstellt: die Spaltung des selbstgenügsam-zweieinheitlichen Kugelmenschen bzw. der Mutter-Kind-Symbiose. Das Kind begreift sich als getrenntes Lebewesen, es hat das Paradies verloren, in dem es eine grandiose, aber selbstlose Mutter als Teil des eigenen Selbst zu regieren glaubte, ein Liebespaar, wie es das Emblem unserer Kultur veranschaulicht: die Madonna mit dem Kind auf dem Arm, das die Insignien der Herrschaft in Händen hält. Indem das Kind sich nun als ausgeschlossen und die Eltern als Paar wahrnimmt, gewinnt es eine Ahnung von dem Geschlechtsunterschied und der Sexualität sowie der eigenen Zugehörigkeit zu einem Geschlecht und Nichtzugehörigkeit zu dem anderen, auf das es sich von nun an verwiesen sieht. Üblicherweise wird dabei nicht von einer manifesten sexuellen Verführung, sondern von einer unbewussten Verführung ausgegangen. Der frühe Ödipuskomplex ist also das Resultat eines Ablösungsprozesses, der anschließend schmerzlich als Verlorenheit realisiert wird; er bedeutet eine Umzentrierung der Wahrnehmung im Sinne eines individuierten Welterlebens, eine Realisierung des Generationenunterschieds und des Ausgeschlossenseins von der Paarung der Eltern, eine Ahnung von der Geschlechterdifferenz sowie der eigenen Zugehörigkeit. Die Nichtbewältigung dieses Ablösungsvorgangs mit Verzicht auf das geschlechtliche Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils wird psychoanalytisch als Basis für viele neurotische Erkrankungen interpretiert. Es entsteht gegenüber dem Vater (und in Übertragung gegen alle Autoritäten) keine Autonomie. Ein übersteigertes Geltungsbedürfnis als Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen, neurotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen werden in der klassischen Psychoanalyse als typische Folge angesehen. Nach Freud handelt es sich beim Ödipuskomplex um den „Kernkomplex“ der Neurosen. Die ungelöste ödipalen Problematik hat nach analytischer Theorie große Auswirkungen auf die Sozialisation der betreffenden Personen. Vom negativen Ödipuskomplex spricht man, bei Liebe für den gleichgeschlechtlichen Elternteil und eifersüchtigem Hass für den gegengeschlechtlichen. Freuds Religionsvorstellungen, speziell das Bild des allmächtigen, gefürchteten und verehrten Gottes erwachsen aus einer Analogie zur Vaterfigur und zum ,,Ödipuskomplex“ heraus. Beim reifen Ödipuskomplex kommt es nach dieser Theorie zu einer Konsolidierung der Beziehung zum gleichgeschlechtlichen Elternteil und zu einer narzisstisch- modellierenden Spiegelbeziehung (Poluda-Korte 1993Der lesbische Komplex. In: Alves EM (Hrsg) Stumme Liebe. Kore, Freiburg) dahin, dass sie ihr Begehren immer eindeutiger dem Vater zuwendet, der ihr nicht nur das kompensatorische Kind schenken soll, sondern von dessen Genitale sie nun phantasiert, die verlorene Befriedigung in neuer Weise in der Tiefe ihres psychisch repräsentierten und körperlich erlebten Genitales wiederzuerlangen. Dies Begehren spitzt sich im reifen Ödipuskomplex endlich so zu, dass die Identifizierung mit der Mutter in ein mörderisches Ersetzenwollen ihrer Person mündet, um den Vater exklusiv genießen zu können. Anders als Freud, der beim Mädchen (mangels Kastrationsdrohung) keine Lösung des Ödipuskomplexes, sondern ein „Landen im ödipalen Hafen“ konstatierte, glaub Frau Korte, dass auch der Ödipuskomplex des Mädchens untergeht, indem es den Anspruch der Mutter akzeptiert. Die notwendige ödipale Enttäuschung wirkt sich schließlich auch beim Mädchen in einer partiellen Identifizierung mit dem Vater als dem aufgegebenen Liebesobjekt und zunehmender Über-Ich-Reifung aus. Die Enttäuschung im reifen Ödipuskomplex scheint jedoch beim Jungen in weit schmerzlicherer Weise zu verlaufen als beim Mädchen, da es den Vater nie so intim besessen hat, wie einst die Mutter, während der Junge erst jetzt von der ganzen Härte des sexuellen Verzichts auf die Mutter betroffen ist. Dementsprechend fällt das reife Über-Ich des Jungens strenger aus als beim Mädchen, was Freud bereits konstatierte. In der autoerotischen Phase entwickelt der Junge parallel zum Mädchen ein großes, wenn auch ambivalentes Interesse für den Vater, mit dem er sich phallisch-narzisstisch identifiziert, mit dem er leidenschaftliche Kämpfe phantasiert, Supermann-Größenträume und schließlich auch intensive erotische Szenarien, um sich seines männlichen Organs zu versichern und Distanz und Selbstbehauptung gegenüber der Mutter zu gewinnen, deren Bild er nun mehr und mehr durch die Augen des Vaters zu erneuern trachtet. Da sich die Beziehung zum idealisierten Vater weniger konkret als phantastisch entwickelt, bedeutet der Progress zur ödipalen Konkurrenz schließlich eine phantasmatisch erhöhte Herausforderung, die den Jungen so in Nöte bringt, wie es von psychoanalytischer Seite oft beschrieben wurde. Der Untergang seines reifen Ödipuskomplexes wird deshalb so zu einem entscheidenden Ereignis in seiner Entwicklung, da er für den herben Verzicht auf die primär und genital, also doppelt begehrte Mutter eine loyale und liebevolle Beziehung zum großen Vater sichert, wobei er seine doppelte Wut ins entsprechend gestrenge Über-Ich bindet und sich wiederum partiell mit der Mutter identifiziert, indem er sich sexuell von ihr löst.( Poluda-Korte Forum Psychoanal (1999) 15:101–119). Der Ödipuskomplex spielt nach analytischer Auffassung die grundlegende Rolle in der Strukturierung der Persönlichkeit und der Ausrichtung des sexuellen Wunsches des Menschen, er ist in dieser Theorie die Hauptbezugsachse der Psychopathologie. Freud: „Nach meinen bereits zahlreichen Erfahrungen spielen die Eltern im Kinderseelenleben aller späteren Psychoneurotiker die Hauptrolle, und Verliebtheit gegen den einen, Hass gegen den anderen Teil des Elternpaares gehören zum eisernen Bestand des in jener Zeit gebildeten und für die Symptomatik der späteren Neurose so bedeutsamen Materials an psychischen Regungen. Ich glaube aber nicht, dass die Psychoneurotiker sich hierin von anderen normal verbleibenden Menschenkindern scharf sondern“. „Das Altertum hat uns zur Unterstützung dieser Erkenntnis einen Sagenstoff überliefert, dessen durchgreifende und allgemeingültige Wirksamkeit nur durch eine ähnliche Allgemeingültigkeit der besprochenen Voraussetzungen aus der Kinderpsychologie verständlich wird.““ Man sagt mit Recht“, dass der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist, das wesentliche Stück im Inhalt der Neurose darstellt. In ihm gipfelt die infantile Sexualität, welche durch ihre Nachwirkungen die Sexualität des Erwachsenen entscheidend beeinflusst. Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen.“ Die Theorie des Ödipuskomplexes ist auch populärwissenschaftlich inzwischen sehr verbreitet. Wissenschaftlich spielt sich außerhalb der Psychoanalyse keine große Rolle. „Die Phantasien erinnern an etwas, das ein Kind früh gehört, aber erst später verstanden hat.“ Insbesondere bei Deutungen des realen sexuellen Missbrauchs ist die Tendenz wegen unbewusster Wünsche Opfer und Täter gleichzusetzen, den angeblichen sexuellen Wünschen des Kindes eine Teilverantwortung zu geben, sehr problematisch.

 

Quellen / Literatur:

Greve, W., Roos, J. (1996): Der Untergang des Ödipus-Komplexes. Argumente gegen einen Mythos. Bern/Göttingen/Toronto (Huber), Klaus Schlagmann (1997): Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste. Verlag Der Stammbaum und die Sieben Zweige, Saarbrücken. 217 S., 24.80 DM. (ISBN 3-9805272-1-2). Sophokles (1995): König Ödipus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Kurt Steinmann. Reclam, Stuttgart.

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur