Wahn

Eine falsche Gewissheit, die mit Überzeugung aufrechterhalten wird, auch wenn sie im Widerspruch zur Realität steht. Man kann Wahn definieren als krankhaft entstandene Fehlbeurteilungen der Realität, die mit apriorischer Evidenz (erfahrungsunabhängiger Gewissheit) auftreten und an denen mit subjektiver Gewissheit festgehalten wird, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Erfahrung der gesunden Mitmenschen sowie zu ihrem kollektiven Meinen und Glauben stehen. Wahn wird von überwertigen Ideen dadurch unterschieden dass letztere im Gespräch oder bei Überprüfung durch den Betroffenen korrigierbar sind. Gemeinsam ist dem Wahn und der überwertigen Idee, dass beide verhaltensrelevant sind, und lange Zeit emotionale Spannung erzeugen. Wahnthemen sind meist emotionsbezogen, je länger ein Wahn besteht, umso weniger ist er aber oft von Emotionen begleitet. Die Entstehung aus einer Emotionalen Not heraus rührt daher, dass die die Fähigkeit einschränkt ist, im Affekt logisch zu denken. Die ganze Aufmerksamkeit und das Denken des Kranken ist dann meist auf das Wahnobjekt fixiert, dem Wahn widersprechende Hinweise werden nicht beachtet. Innere Vorgänge werden auf Veränderungen in der Umwelt bezogen. Unerklärliches wird mit ungewöhnliche Erklärungen scheinbar schlüssig erklärt und häufig als von Außen gesteuert wahrgenommen (Erklärungswahn). Ein bestehender Wahn bringt für die Kranken oft auch eine subjektive Erleichterung, jetzt alles erklären zu können. Wahn gibt es bei verschiedenen Psychosen, er ist nicht spezifisch für die Schizophrenie, beispielsweise begünstigen auch Persönlichkeitsstörungen die Wahnentwicklung. Auch Diskriminierungen und andere sehr schwere Traumen können wahnhafte Entwicklungen auslösen. Soziale Isolierung und Einsamkeit fördert Wahn, durch den Verlust sozialer Beziehungen und damit auch von Korrekturanregungen während der Entstehung. Für die Entwicklung von Schizophrenien gelten Diskriminierungen und andere sehr schwere Traumen aber nur als Auslöser oder Auslöser für einen Rückfall, nicht als ursächliches Agens. Wahn führt häufig zur sozialen Isolierung, die dann wiederum die Aufrechterhaltung des Wahns begünstigt.

Nicht jede Verschwörungstheorie oder abweichende Überzeugung ist ein Wahn. Alle Menschen aus geistig Gesunde besitzen ein Kausalitätsbedürfnis, das uns hilft nach Zusammenhängen zu suchen und in Ansätzen die Welt um uns herum, und auch andere Menschen und deren Kommunikation mit uns zu verstehen. Dieses Kausalitätsbedürfnis zwingt uns geradezu, über ursächliche Zusammenhänge nachzudenken, besonders wenn wir wahrnehmen, dass etwas real oder scheinbar gegen uns vor sich geht. Je bedrohlicher und die Situation erlebt wird, umso verständlicher sind Überreaktionen in der ursächlichen Deutung. Auch Verschwörungstheorien können sich noch im Bereich des Gesunden abspielen, und manchmal sogar von einer ganzen Gesellschaft oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden. Dabei können in Extremsituationen für Außenstehende unverständliche Reaktionen auftreten, die per se nach Kenntnis der Auslöser und der Situation und Herkunft des Betroffenen nicht abnorm, wahnhaft oder allgemein krankhaft oder psychotisch bedingt sind und dann auch nicht als wahnhaft klassifiziert werden dürfen. Auch haben sehr viele Menschen irreale Ängste (siehe Graphik). Der Übergang von häufigen irrrationalen Ängsten und dysfunktionalen persönlichen Überzeugungen, oder Ideologien zur überwertigen Idee und dann zum Wahn ist fließend. Die Häufigkeit von Wahnphänomenen in der Allgemeinbevölkerung ist wesentlich größer, als die psychiatrische Diagnose einer Wahnhaften oder psychotischen Störung.

Wahn kann ansteckend sein, sowohl in der engen Familienbande als auch in größeren isolierten Gemeinschaften. In den beiden letzten Fällen sind in der Regel keine Halluzinationen vorhanden. Betroffene haben im allgemeinen nicht das Bedürfnis nach einer Begründung seiner wahnhaften Meinung, ihre Richtigkeit ist ihm unmittelbar evident. Ein Wahn ist allgemein eine objektiv falsche Überzeugung, die aus einer krankhaften Ursache heraus entsteht und trotz vernünftiger Gegengründe aufrecht erhalten wird. Beispielsweise haben manche Patienten das Gefühl, bestimmte Vorgänge in ihrer Umgebung hätten speziell etwas mit ihnen zu tun, auch wenn dies objektiv nicht der Fall ist. So können sie z. B. annehmen, dass andere Menschen über sie reden, dass sich Radio- oder Fernsehsendungen oder Zeitungsberichte auf sie beziehen oder dass Gegenstände oder Ereignisse in ihrer Umgebung ihnen bestimmte Zeichen geben. Andere Betroffene fühlen sich verfolgt und beeinflusst durch andere Menschen oder außerirdische Mächte, oder sie befürchten, daß bestimmte Strahlen oder Gifte auf ihren Körper einwirken. Der Wahn kann sich in zahlreichen Formen zeigen und verschiedene Bereiche betreffen. So unterscheidet man z. B. Beziehungswahn, Beeinträchtigungswahn, Verfolgungswahn, Vernichtungswahn, religiösen Wahn, Eifersuchtswahn, Liebeswahn, Größenwahn und Kleinheitswahn. Während der akuten Krankheitsepisode halten die Patienten diese Gedanken oder Erlebnisse für völlig realistisch und können nicht verstehen, dass z. B. die Angehörigen oder der Arzt anderer Meinung sind. Nach Beendigung der akuten Krankheitsepisode können die meisten Betroffenen aber erkennen, dass es sich nur um krankheitsbedingte „Einbildungen“ gehandelt hatte. Systematisierter Wahn: Liegt vor, wenn ein Wahn in der sogenannten Wahnarbeit durch Verknüpfungen, Beziehungssetzungen, ,,Begründungen“ und ,,Beweise“, Bestätigungen, Ableitungen und dergleichen zusammenhängend ausgestaltet wird. Zu diesem Ausbau können neue Wahnwahrnehmungen und Wahneinfälle, reale Wahrnehmungen und Erfahrungen sowie auch sekundäre Wahnerscheinungen (z. B. der Erklärungswahn) herangezogen werden. Es gibt aber auch Wahnsysteme, bei denen offenbar nur die allererste Voraussetzung eindeutig wahnhaft ist. Die Wahnformung vollzieht sich am häufigsten erst im längeren Verlauf der Psychose und ist weitgehend von der Gesamtverfassung des Kranken abhängig. Es gibt chronische Psychosen mit sehr gut erhaltener Persönlichkeit, bei denen ein systematisierter Wahn das einzige offenkundige Symptom zu sein scheint. Bei der Paranoia ist immer ein Wahnsystem entwickelt.

Wahndynamik

Die affektive Anteilnahme am Wahn; die Kraft des Antriebes und die Stärke der Affekte, die im Wahn wirken. Für den Untersucher ist die Wahndynamik zu erschließen aus der Art, wie der Wahn vorgetragen wird. Zwischen lebhafter Wahndynamik mit antriebsstarker Produktivität, lebhaftem Vordrängen des Wahnes und einem eintönig starren Festhalten an einem (dann oft alten) Wahn, oft auch ohne affektive Bewegtheit mit Herunterleiern des Wahns, so daß die psychotische Wahnproduktivität ausgebrannt erscheint, gibt es alle Ubergänge. Vollziehen sich z. B. Wahneinfalle vor dem Hintergrund lebhaften oder stürmischen affektiven (wenn auch gelegentlich parathymen) Mitschwingeris, bewegter Psychomotorik oder gesteigerten Antriebs, sind die Wahngedanken fließend, wechelnd und durch intensives Reagieren des Kranken ausgezeichnet, so besteht eine stark ausgeprägte Wahndynamik. Werden dagegen vom Kranken z. B. Wahneinfalle ohne nennenswertes emotionales Reagieren, ohne erkennbare Tendenz zur produktiven Ausweitung vorgebracht, so liegt nur eine geringe Wahndynamik vor. Bei alten Schizophrenen scheint es oft ein affektleeres, eingeschliffenes Herunterleiern, ohne daß hier noch ein echtes Erleben des Wahnes spürbar wäre (Residual-Wahn).

Wahnhafte Störung

Eine Störung charakterisiert durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern. Der Inhalt des Wahns oder des Wahnsystems ist sehr unterschiedlich. Eindeutige und anhaltende akustische Halluzinationen (Stimmen), schizophrene Symptome wie Kontrollwahn oder Affektverflachung und eine eindeutige Gehirnerkrankung sind nicht mit der Diagnose vereinbar. Gelegentliche oder vorübergehende akustische Halluzinationen schließen besonders bei älteren Patienten die Diagnose jedoch nicht aus, solange diese Symptome nicht typisch schizophren erscheinen und nur einen kleinen Teil des klinischen Bildes ausmachen.

Wahnstimmung

Ist die erlebte Atmosphäre des Betroffenseins, des bedeutungsvollen Angemutetwerdens in einer verändert erlebten Welt oder auch durch ein verändert erlebtes Ich, wobei der Kranke nicht unbedingt einen konkreten Inhalt angeben muß. Diese Stimmung besteht in einem unmotivierten, d. h. dem Gesunden nicht zwingend nachvollziehbaren Bedeutungszumessen und Inbeziehungsetzen, Meinen, Vermuten und Erwarten. Bei der (subjektiven) Überzeugung von der Richtigkeit des wahnhaft Erlebten (Wahngewißheit, apriorisches ,,Wissen“) gibt es die verschiedensten Grundtönungen der Stimmung, am häufigsten die Stimmung der Unheimlichkeit, des Verändertseins (des Kranken selbst oder seiner Umgebung), des Erschüttert- und Erschrecktseins, der Bedrohung, der Angst, des Argwohns, der Ratlosigkeit, manchmal auch der Gehobenheit und Zuversicht. (Beispiele: es liegt etwa in der Luft, es kommt etwas heran, alltägliche Dinge der Umgebung erhalten eine besondere Bedeutung etc.).

Wahnwahrnehmung

Richtige Sinneswahrnehmungen erhalten eine abnorme Bedeutung (meist im Sinne der Eigenbeziehung), die ihnen objektiv nicht zukommt. Die Wahnwahrnehmung ist also eine wahnhafte FehlInterpretation einer wirklichen Wahrnehmung. Beispiel: Dieser Streifen am Himmel (ein Kondensstreifen von einem Flugzeug) ist ein Fingerzeig Gottes. – Daß der Arzt mit dem Kopf nickte, als er mir zum Abschied die Hand gab, bedeutet, daß ich doch Krebs habe. Nicht zu verwechseln mit illusionärer Verkennung. Wahneinfall nennt man das plötzliche Ankommen (,,Einfallen“) von wahnhaften Meinungen.

Wahngedanken
Gedanken, die eine Person äußert, und die für sie eine hohe Bedeutung haben, die aber falsch sind und mit den Überzeugungen in der Kultur der Umwelt nicht vereinbar sind. Eine emotionaler Beteiligung ist gegenwärtig oder in der Vergangenheit vorhanden.
Der Inhalt der Gedanken ist für den Betroffenen unmittelbar evident ohne notwendigen Bezug auf die Erfahrung, und bedarf keiner weiteren Überprüfung oder Erklärung. Die Überzeugung ist im Gespräch unkorrigierbar, ein möglicher Zufall wird vom Betroffenen als Erklärung abgelehnt.

 

Quellen / Literatur:

Schizophrenie Links zu Studien zur Häufigkeit wahnhafter oder psychotischer Phänomen in der Allgemeinbevölkerung: Arch Gen Psychiatry. 2001;58:663-668, The British Journal of Psychiatry (2004) 185: 298-305 British Journal of Psychiatry, 180, 174 -178 The British Journal of Psychiatry, June 1, 2006; 188(6): 519 – 526. Am J Psychiatry 159:1412-1419, August 2002 The British Journal of Psychiatry, April 1, 2008; 192(4): 258 – 263. Am J Psychiatry, May 1, 2004; 161(5): 864 – 871. Arch Gen Psychiatry 1996; 53:880-886

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur