Verhandlungsfähigkeit

bezieht sich auf den Angeklagten im Strafverfahren und meint die Fähigkeit, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesshandlungen vorzunehmen. Zudem darf durch die Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben nicht gefährdet werden oder zu schweren Gesundheitsschäden führen. Dafür soll beim Angeklagten ein Zustand geistiger Klarheit und Freiheit bestehen. Es muss so mit ihm strafgerichtlich verhandelt werden können, dass er aufgrund seiner psychischen und physischen Verfassung in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, die Bedeutung des Verfahrens sowie der einzelnen Verfahrensakte zu erkennen, zu würdigen und sich sachgerecht zu verteidigen. Eine schuldhafte Herbeiführung der Verhandlungsunfähigkeit kann dazu führen, dass die Verhandlung in Abwesenheit durchgeführt wird. Im Zweifel erfolgt eine ärztliche Untersuchung auf richterliche Anordnung, evtl. auch zwangsweise (Duldungspflicht. Ein Attest eines Behandlers ist in der Regel nicht ausreichend. Resultat eines solchen Gutachtens muss auch bei Einschränkungen nicht immer Verhandlungsunfähigkeit sein, es kann auch eine Einschränkung der maximalen Verhandlungszeit/Tag oder /Woche sein, außerdem wird sich ein solches Gutachten zur voraussichtlichen Dauer der begrenzten Verhandlungsfähigkeit äußern. Damit wäre der Betroffene u.U. nur eingeschränkt verhandlungsfähig. Depessive Störungen sind beispielsweise meist gut behandelbar, eine schwere Depression kann daher nur zeitweise – bis zur Besserung- Verhandlungsunfähigkeit bedingen.

§ 231a StPO
Vom Angeklagten vorsätzlich herbeigeführte Verhandlungsfähigkeit

(1) Hat sich der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt und verhindert er dadurch wissentlich die ordnungsmäßige Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in seiner Gegenwart, so wird die Hauptverhandlung, wenn er noch nicht über die Anklage vernommen war, in seiner Abwesenheit durchgeführt oder fortgesetzt, soweit das Gericht seine Anwesenheit nicht für unerlässlich hält. Nach Satz 1 ist nur zu verfahren, wenn der Angeklagte nach Eröffnung des Hauptverfahrens Gelegenheit gehabt hat, sich vor dem Gericht oder einem beauftragten Richter zur Anklage zu äußern.

(2) Sobald der Angeklagte wieder verhandlungsfähig ist, hat ihn der Vorsitzende, solange mit der Verkündung des Urteils noch nicht begonnen worden ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist.

(3) Die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nach Absatz 1 beschließt das Gericht nach Anhörung eines Arztes als Sachverständigen. Der Beschluss kann bereits vor Beginn der Hauptverhandlung gefasst werden. Gegen den Beschluss ist sofortige Beschwerde zulässig;

sie hat aufschiebende Wirkung. Eine bereits begonnene Hauptverhandlung ist bis zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde zu unterbrechen; die Unterbrechung darf, auch wenn die Voraussetzungen des § 229 Abs. 2 nicht vorliegen, bis zu dreißig Tagen dauern.

(4) Dem Angeklagten, der keinen Verteidiger hat, ist ein Verteidiger zu bestellen, sobald eine Verhandlung ohne den Angeklagten nach Absatz 1 in Betracht kommt.

Zitat 2 BvR 1060/78: „Die Rechtsprechung wendet diese Vorschrift auch in Fällen an, in denen sich der Beschuldigte bewußt zur Verhinderung des Verfahrens in eine krankhafte, seine Verhandlungsfähigkeit ausschließende Erregung versetzt hat (BGHSt 2, 300 (304f); vgl.. auch BGHSt 16, 178 (183)). Unter den besonderen Voraussetzungen des § 231a StPO ist die Hauptverhandlung auch dann in Abwesenheit des verhandlungsunfähigen Beschuldigten durchzuführen oder fortzusetzen, wenn dieser noch nicht über die Anklage vernommen war. Diese Regelung, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BVerfGE 41, 246 (249)), kann nach der Rechtsprechung z.B. auch in Fällen eingreifen, in denen sich der Beschuldigte bewußt in einen psychischen Ausnahmezustand mit dem Ziel, seine Verhandlungsunfähigkeit herbeizuführen, hineingesteigert hat (OLG Hamm, NJW 1977, S 1739)“. Eine Verhandlungsunfähigkeit kann gegeben sein bei fortgeschrittenen, progredient verlaufenden körperliche Erkrankungen wie Krebserkrankungen, dekompensierter Leberzirrhose, nach einem Schlaganfall mit erheblichen neurologischen Ausfällen, organischem Psychosyndrom, höhergradiger Intelligenzminderung, oder wenn ein begründeter Verdacht auf einen irreparablen Gesundheitsschaden durch die Verhandlungsteilnahme besteht. Vernehmungsfähigkeit bedeutet, bei der Vernehmung durch Ermittlungsbehörden oder Gerichte den Sinn von Fragen zu verstehen und sinnvoll zu beantworten. Nicht vernehmungsfähig sind Menschen bei schwerer Beeinträchtigung ihrer kognitiver Fähigkeiten, schweren Intoxikation durch Alkohol, Drogen oder Arzneimittel, schwerer Entzugssymptomatik, schweren akuten Belastungsreaktionen, akuten Psychosen. Wie bei der Verhandlungsfähigkeit gilt auch bei der Vernehmungsfähigkeit: eine Vernehmungsunfähigkeit hat nichts mit einer Arbeitsunfähigkeit zu tun. § 36 a StPO (verbotene Vernehmungsmethoden) zielt in erster Linie darauf ab, einen freien und geordneten Zustand des Beschuldigten bei seiner Vernehmung zu gewährleisten. Bei der Vernehmung darf die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung nicht durch erkennbare Bewusstseinsstörung oder manipulierte Eingriffe eingeengt sein. Die Erinnerungsfähigkeit kann etwa durch kognitive Störung, zum Beispiel gravierende Hirnmangeldurchblutung, Einschränkungen unterliegen. Die Einsichtsfähigkeit beinhaltet die Erfassung des Sachverhaltes und die Erkenntnis der Bedeutung eigener Einlassungen, das heißt die Freiheit über Aussage, Umfang und Inhalt zu entscheiden. Sie entspricht nicht der zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit (§§ 104 ff. BGB), sondern eher der Einwilligungsfähigkeit für ärztliche Eingriffe und kann auch als die Fähigkeit zu inhaltlich geordneter Kommunikation definiert werden. Verfahrensfähigkeit ist die Prozessfähigkeit im Zivilprozess, die von der Geschäftsfähigkeit nach bürgerlichem Recht abhängt.

 

Quellen / Literatur:

Rothschild, Markus Alexander; Erdmann, Erland; Parzeller, Markus Der Patient vor Gericht: Verhandlungs- und Vernehmungsfähigkeit Deutsches Ärzteblatt 104, Ausgabe 44 vom 02.11.2007, Seite A-3029 HTML

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur