Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen

Der gesamte Prozess der Verarbeitung, Wahrnehmung und Verwertung akustischer Signale ist ein eng ineinander verwobener, z. T. hierarchischer Prozess, an dem eine Vielzahl von serialen, parallelen und verteilten neuronalen Netzwerken beteiligt ist. Im Folgenden wird der Begriff Verarbeitung im Sinne einer neuronalen Weiterleitung sowie Vorverarbeitung und Filterung von auditiven Signalen bzw. Informationen auf verschiedenen Ebenen (Hörnerv, Hirnstamm, Kortex) verwendet . Die Wahrnehmung (Perzeption) wird als ein Teil der Kognition (die sich auf alle Prozesse bezieht, durch die Wahrnehmungen transformiert, reduziert, verarbeitet, gespeichert, reaktiviert und verwendet wird) verstanden. Der Begriff umfasst diese Prozesse auch dann, wenn relevante (äußere) Stimulierung fehlt, wie dies bei Vorstellungen und Halluzinationen der Fall ist, wird also im Sinne einer zu höheren Zentren hin zunehmenden bewussten Analyse auditiver Informationen aufgefasst. Diese kommt durch die oben genannte Signalverarbeitung (in der Literatur auch als „Bottom-up-Prozesse“ bezeichnet) und zunehmende Beeinflussung durch Vigilanz, Aufmerksamkeit und Gedächtnis (in der Literatur auch als „Top-down-Prozesse“ bezeichnet [4]) zustande. Die Definition der „auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung „beruht primär auf der hierarchischen Gliederung der mechanoelektrischen und elektromechanischen Transduktion akustischer Signale sowie der afferenten Weiterleitung, der durch diese Transduktionsschritte induzierten nervalen Impulse und neuralen Aktivitäten. Eine auditive Verarbeitungs- und/oder Wahrnehmungsstörung (AVWS) liegt vor, wenn zentrale Prozesse des Hörens gestört sind [gemäß der Internationalen Klassifikation von Krankheiten ICD 10, würde diese Störung als F88, H91.8, H93.2 oder H90.5 kodiert, nach der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen ICIDH würde diese Störung auf der S-Ebene ggf. mit 23.0, 23.03, 23.09, 32.1, 32.8, 32.9, 34.0, 46, 47.1, 47.8 und auf der F-Ebene mit 23, 24, 28 oder 29 kodiert)]. Zentrale Prozesse des Hörens ermöglichen u. a. die vorbewusste („preattentive“) und bewusste („attentive“)Analyse von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsbeziehungen akustischer Signale, Prozesse der binauralen Interaktion (z. B. zur Geräuschlokalisation, Lateralisation und Störgeräuschbefreiung). Wenn der Sinngehalt akustischer Signale aufgrund eingeschränkter höherer kognitiver Fähigkeiten (z. B. mangelnder Fremdsprachenkenntnisse) nicht verwertet werden kann, liegt keine Störung im medizinischen Sinn vor (gemäß explizierter Anweisung im ICIDH würde diese Störung auch nicht auf der F-Ebene mit 20 kodiert werden). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen können isoliert (bei einer isolierten Störung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung ohne weitere erkennbare Ursache – wie z. B. vaskuläre Störung im Hirnstamm, Hirntumoren o. ä. – würde man im Sinne der ICIDH von einer Schädigung sprechen; es liegt dann eine spezifische AVWS vor, die entsprechend auf der S-Ebene gemäß ICIDH kodiert wird), in Kombination mit anderen Störungen (z. B. Aufmerksamkeitsstörungen – Hyperaktivität, Lernstörungen, Störungen der Speicher -und Abruffunktionen von Gedächtnisfähigkeiten, Spracherwerbsstörungen, Einschränkung der allgemeinen Intelligenz) oder als Symptom solcher Störungen vorliegen. (Muss eine andere Störung als Ursache einer AVWS angenommen werden, würde man im Sinne der ICIDH von einer AVWS als Funktionsbeeinträchtigung sprechen und auf der S-Ebene entsprechend der zugrunde liegenden Störung kodieren.) Im Einzelfall kann es sehr schwierig bis unmöglich sein, diagnostisch eine klare Abgrenzung zwischen solchen Störungen bzw. Krankheitsbildern vorzunehmen. Die Diagnose einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung kann nur dann gestellt werden, wenn eine periphere Hörstörung zuvor fachärztlich audiologisch sicher ausgeschlossen wurde. Ätiologie und Pathogenese Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen beruhen auf einer Dysfunktion der Afferenzen und Efferenzen der zur Hörbahn gehörenden Anteile des zentralen Nervensystems. Es ist bisher nicht bekannt, ob diese Störung isoliert nur die Hörbahn betrifft oder ob vielmehr ein generelles Defizit (z. B. Defizit der schnellen neuralen Kodierung vorliegt. Aufgrund klinischer Beobachtungen kann allerdings vermutet werden, dass einzelne Abschnitte der Hörbahn im unterschiedlichen Maße von einer Dysfunktion betroffen sein können. Prävalenz: Angaben zur Prävalenz auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen im oben genannten Sinne liegen nicht vor. Zu „central auditory processing disorders“ wird eine Prävalenz von 10–20% bei älteren Erwachsenen und 2–3% bei Kindern mitgeteilt. Das Geschlechterverhältnis von Betroffenen wird auf 2:1(männlich : weiblich) geschätzt. Symptome: Bei betroffenen Patienten liegt eine Analysestörung der in akustischen Signalen enthaltenen Frequenz-, Zeit-, Intensitäts- und Phaseninformation vor: Analyse und Integration dynamischer, spektraler und temporaler Beziehungen können damit gestört sein. Viele der zur Verfügung stehenden Tests sind nicht standardisiert und darüber hinaus in ihrer Wertigkeit umstritten. Bei einigen von ihnen ist die Reteststabilität nicht bekannt. Zur Bewertung hat eine Gesamtschau der Befunde standardisierter und nichtstandardisierter Testergebnisse, der Beobachtungen und der Anamnese vor dem Hintergrund der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des zu untersuchenden Patienten zu erfolgen. Es ist eine umfassende Testbatterie aus subjektiven und objektiven Tests erforderlich. Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse lassen sich therapeutische Interventionen in 3 große Gruppen einteilen 1. Interventionen zur Verbesserung auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (übende Verfahren), Aufgrund der bisherigen klinischen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass der Einsatz störungsspezifischer Übungen zur Verbesserung der jeweiligen Funktion der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung sinnvoller und effizienter ist als der unspezifische Einsatz solcher Übungen.2. Verfahren zur (verbesserten) Kompensation gestörter Dysfunktionen (z. B. metakognitive Verfahren), Einüben bzw. Lernen kompensatorischer Strategien beruhen darauf, dass im vermehrten Umfang übergeordnete bzw. unspezifische Hirnleistungen oder andere Wahrnehmungs- oder Verarbeitungsstrategien z. T. weiterer Sinnesmodalitäten (z. B. Absehen des Mundbildes) zur Kompensation auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen eingesetzt werden. . Es ist davon auszugehen, dass der Einsatz solcher erlernter oder erübter Maßnahmen insbesondere dann sinnvoll ist, wenn das akustische Signal nicht in optimaler Qualität angeboten wird.3. Kompensatorische Verfahren zur Verbesserung der akustischen Signalqualität. Verbesserung der Schallreflexion in Schulräumen durch Anbringen geeigneter Textilien, Verringerung des Störschalls durch Verkleinerung der Gruppenstärke im Unterricht, in Sonderfällen Anpassung von FM-Übertragungsanlagen oder Hörgeräten). Da letztgenannte Maßnahme potentiell geeignet sind, das Neuroepithel des Innenohrs (zusätzlich) zu schädigen, sollten solche Maßnahmen nur nach strenger Indikationsstellung und exakter Überwachung durch einen Phoniater/Pädaudiologen erfolgen. Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität akustischer Signale können auch darin bestehen, dass z. B. im Klassenraum der Lehrer langsamer und besser artikuliert spricht. Bisher liegen nur wenige Studien zum Erfolg therapeutischer Interventionen bzw. zur Prognose bei auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen vor. Diese wenigen Studien zeigen, dass im Einzelfall eine signifikante Besserung auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsfunktionen möglich war. Die wenigen bisher vorhandenen Daten erlauben allerdings keine sichere Abschätzung der Prognose. Die hier ausgesprochenen Empfehlungen beruhen auf nur z.T. wissenschaftlich abgesicherten Kenntnissen. Sofern keine wissenschaftlich abgesicherten Daten zur Verfügung stehen, beruhen diese Empfehlungen auf den klinischen Erfahrungen und Erkenntnissen der Autoren. M.Ptok et al. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen Konsensus-Statement HNO 2000 · 48:357–360

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur