Defensive Medizin oder Defensivmedizin

Die Ausübung seines Berufes bringt für den Arzt nicht nur medizinische Gefahren, wie die Ansteckung mit einer gefährlichen Erkrankung, bedrohlicher sind für die meisten Ärzte die juristischen Gefahren des Berufes. Gemeint ist mit Defensivmedizin die Selbstverteidigung des Arztes vor tatsächlicher oder befürchteter Strafrechtshaftung und Schadensersatzforderungen seitens der Patienten, der Kostenträger, Selbstverwaltungsorgane …. Auch in Deutschland soll es jährlich mehr als 10.000 (nach manchen Angaben sogar über 30000) Schadensersatz- und Schmerzensgeldklagen geben. Jede auch noch so sorgfältige leitliniengerechte medizinische Behandlung ist ohne Zweifel mit erheblichen Risiken für die Patienten verbunden. Die Folgen ärztlicher Behandlung sind zwar in erster Linie Verbesserungen des Gesundheitszustandes des Patienten und die Verlängerung seines Lebens, dennoch zählen die Nebenwirkungen ärztlicher Behandlung zu den häufigen Ursachen für Beschwerden und sogar zu den häufigen Todesursachen. Die Folgen von Unterlassungen ärztlicher Behandlungen sind in der überwiegenden Zahl der Fälle sicherlich für die Patienten gravierender. 25 000 Todesfälle durch medizinische Fehlbehandlungen („Kunstfehler“) bei insgesamt 100 000 Medizinschäden pro Jahr in der Bundesrepublik vermutet der Allgemeine Patienten-Verband. Die Kontrolle der Ärzte wie die Klagebereitschaft von Kontrollorganen wie Patienten nimmt in verschiedensten Bereichen rapide zu. Budgetierung der Medikamente führt zur privaten Haftung des Arztes für die Ausgaben für die von ihm verschriebenen Medikamente. Angst vor dem Regress und vor Kunstfehlerprozessen und unrealistische Erwartungen der Patienten nach Massenmedienberichten prägen zunehmend die Medizin. Qualitätsmanagement, Weiterbildungsvorschriften, Budgetierung, Leitlinien, Kostendruck führen zu einer zunehmenden Regulierung und rechtlichen Festlegung ärztlichen Handelns. Es ist wahrscheinlich, dass manche Aspekte dieser defensiven Medizin bei uns ähnlich wie in den USA eine immer größere Bedeutung erlangen werden. Mehrer hunderttausend Dollar Haftpflichtprämie sind für manche Fachärzte in den USA bittere Realität. Bei einer Befragung von 824 amerikanischen Ärzten gaben fast alle (93%) an, dass sie defensive Medizin praktizieren. Sie überweisen Patienten unnötigerweise zu Zusatzuntersuchungen, die sie eigentlich für überflüssig halten (92%). 43% gaben an, deshalb an sich unnötige bildgebende Untersuchungen (wie Röntgenbilder) anfertigen zu lassen. Weit verbreitet ist auch die Behandlungsverweigerung dort wo ein besonders hohes Risiko für Versicherungsschäden gesehen wird. 42% der in Pennsylvania (Bundesstaat mit hohen Versicherungsprämien) befragten Ärzte gab an, in den letzten 3 Jahren ihre Praxis reduziert zu haben um insbesondere komplikationsträchtige Behandlungen aus ihrem Repertoire zu streichen. Patienten mit komplexen medizinischen Problem oder Patienten, die klagebereit erscheinen werden gemieden. Überdiagnostik im Rahmen der Defensivmedizin kann die Kosten in die Höhe treiben und selbst Komplikationen hervorrufen, Patienten mit schweren oder multiplen teuren Krankheiten werden bereits in Einzelfällen von Kliniken oder Ärzten wegen ausgeschöpftem Budget abgewiesen. Wenn Ärzte alles unterlassen würden, womit sie sich selbst einer juristischen Gefahr aussetzen, würden viele Patienten nicht oder nur sehr schlecht behandelt werden können. Viele Behandlungsmethoden sind umstritten, unterschiedliche Auffassungen zu einer bestimmten Behandlungsmethode können jeweils gut begründet sein, und die individuelle Situation des Patienten kann nicht auf alle Leitlinien zu seiner Diagnose passen. Neue Behandlungsmethoden würden bei defensivem Vorgehen keine Chance mehr haben ihren Nutzen zu beweisen. Dort wo durch Defensivmedizin die Sorgfalt bei der ärztlichen Behandlung steigt, ist sie dem Patienten wie dem Arzt gleichermaßen nützlich, dort wo sie zu übervorsichtiger Diagnostik und zur Ablehnung der Behandlung „teurer und riskanter“ Patienten führt, ist sie für Patienten gefährlich. Die partnerschaftliche Einbeziehung des informierten Patienten in Behandlungsentscheidungen einschließlich ausführlicher Information über Behandlungsrisiken und das tatsächlich durch Behandlung Erreichbare sowie Fehlervermeidungskontrollen sind die sinnvollsten Alternativen zur Defensivmedizin.

 

Quellen / Literatur:

JAMA. 2005;293:2609-2617. ABSTRACT

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur