Kratzwunden, selbst zugefügte

(Neurotische Exkoriation, Psychogene Exkoriation, Akne exkoriee, Dermatillomanie, – wie Juckreiz entsteht)
Juckreiz kann völlig harmlos sein, er kann auch ein Hinweis auf eine schwerwiegende Erkrankung sein. Jeder Mensch kratzt sich mehrmals am Tag, ohne dass dies ein Symptom für eine Krankheit ist. Die Liste der Auslöser Erkrankungen und Syndrome bei denen Juckreiz auftritt ist lang. Oft sind es harmlose Ursachen, manche Menschen verspüren nach einem Schwimmbadbesuch bis zu eine Woche Juckreiz, oft ist auch die symptomatische Behandlung einfach und erfolgreich. Da von Nierenerkrankungen über Diabetes, M. Hodgkin, AIDS, Parasiten, Lebererkrankungen… eine unzählige Liste von Erkrankungen Juckreiz verursachen kann, ist bei neuem hartnäckigem Juckreiz der Gang zum Arzt immer zu empfehlen. Juckreiz ist eine Hautempfindung, die erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten hat. Juckreiz hat Ähnlichkeiten mit Schmerzen, auch Juckreiz zeigt zunächst eine Schädigung auf der Haut, manchmal aber auch eine systemische Erkrankung an. Es wurden dabei sowohl Parallelen als auch deutliche Unterschiede zur Verarbeitung der Schmerzempfindung gezeigt. Neurophysiologische Forschungen zeigen einen von Schmerzbahnen unterschiedlichen Verlauf der C-Nervenfasern, die Juckreiz vermitteln. Kratzen aktiviert über Mechanorezeptoren myelinisierte A-Fasern und Nozizeptoren (Schmerzfasern), die über Verschaltungen im Rückenmark den Juckreiz dämpfen. Die Nervenfasern die Juckreiz leiten lassen sich in Experimenten durch Stimulation mit Histamin untersuchen. Sie sind unter der Haut weit verzweigt und leiten langsam. Während Schmerzen meist zum Fluchtreflex oder zum Rückzug führen, führt Juckreiz zu einem reflexhaften Kratzen. Untersuchungen am Rückenmark von Katzen haben gezeigt, dass auch im Hinterhorn bestimmte Fasern für die Weiterleitung des Juckreizes zum Thalamus zuständig sind. In der Haut selbst gibt es wohl keine speziellen Rezeptoren für das „Juckempfinden“ vielmehr wird die Wahrnehmung des Juckreizes einfach über die spinale Verschaltung möglich. Neuere Untersuchungen zur zentralnervösen Verarbeitung der Juckreizempfindung weisen darauf hin, dass es sich bei Pruritus ähnlich wie bei Schmerz um eine komplexe, multifaktorielle Sinneswahrnehmung handelt. Positronenemissionstomographien (PET) zeigen, dass nach einem juckenden Hautreiz gleichzeitig die anterioren Gyri cinguli, das supplementärmotorische Areal und der inferiore Parietallappen besonders der linken Hirnhälfte aktiviert werden. Funktionale NMR Untersuchungen zeigen eine zusätzliche Aktivierung von Vorderhirnanteilen ((Brodman 10, 21, 22, und 40) und Kleinhirn. Die Aktivierung des supplementärmotorischen Areals zeigt, dass die Hypothese eines angeborenen Drangs zu Kratzen fundiert ist. Die Aktivierung zeigt dabei Parallelen und Unterschiede zu den Arealen, die bei Schmerzen aktiviert werden. Juckreiz wird in 4 Kategorien eingeteilt: 1.) Pruritozeptiven Juckreiz, ein Juckreiz der in der Haut durch Entzündungen, Trockenheit oder andere Hautschäden entsteht und über C- Nervenfasern geleitet wird, Beispiele sind Urtikaria, Hautreaktionen auf Läuse oder Insektenstiche. 2.) Neuropathischen Juckreiz Die Schädigung sitzt dabei irgendwo auf dem afferenten Weg der Nervenfasern. Post-Herpes zoster Neuropathie, Juckreiz bei MS, oder Hirntumoren fällt in diesen Bereich. Typisch bei der MS sind paroxysmale abrupt einsetzende Sekunden oder Minuten dauernde Juckreizattacken, die auch aus dem Schlaf heraus auftreten können und den Patienten wecken. 3.) Neurogener Juckreiz hat seinen Ursprung im ZNS, aber ohne Hinweise auf eine zentralnervöse Erkrankung wie der Juckreiz bei Cholestase der Folge der Wirkung von Opioidneuropeptiden auf µ-Opioidrezeptoren ist. Möglicherweise sind hier hemmende Fasern gestört. Opioidantagonisten wie Naloxon, Naltrexon, oder Nalmefen sollen gegen den besonders bei Hepatitis C sehr unangenehmen Juckreiz wirksam sein, manchmal in Kombination mit Cholestyramin. Ähnliches gilt für den Juckreiz bei chronischen Nierenerkrankungen. 4.) Psychogener Juckreiz, bei Wahn, aber auch aus vielen anderen Gründen s.u. Auch die körperlichen Entstehungsursachen des Juckreizes sind vielfältig, und das gesicherte Wissen von ihnen ist im Einzelfall noch sehr begrenzt. Daraus resultiert, dass es nicht „den“ Juckreiz gibt, sondern ursächlich unterschiedliche Formen bei verschiedenen juckreizassoziierten Krankheiten. Der pruritogene Stimulus ist bei all diesen Erkrankungen letztlich oft nicht identifiziert, und es ist wahrscheinlich, dass verschiedene Pruritogene beteiligt sind. Juckreiz kann exogen und endogen ausgelöst werden. Polymodale Nozizeptoren sind an der Empfindung von Juckreiz beteiligt. Sie bestehen zu 80 bis 90 Prozent aus unmyelinisierten C-Fasern und enervieren die distalen Bereiche der Haut. Eine Deepidermisierung der Haut geht mit einer Auslöschung des Phänomens Juckreiz einher. Nicht alle anatomischen Strukturen und Prozesse, die an der Entstehung des Juckreizes beteiligt sind, können klar definiert werden. Dennoch sind heute eine Fülle ganz unterschiedlicher pruritogener Stimuli bekannt. Juckreizattacken treten meist kurz vor dem Einschlafen auf, bei Langeweile oder Ärger, bei mentaler Anspannung und in Wartesituationen. Häufig wird der Juckreiz beim Übergang von Anspannung zur Ruhe wahrgenommen. Kratzen ohne Juckreiz ist ein Ausdruck emotionaler Zustände und wird als „Spannungskratzen“ bezeichnet. Das „nächtliche Kratzen“ tritt auf, wenn der Betroffene sich im Schlaf nicht mehr bewusst unter Kontrolle hat. Auch verbale oder visuelle Suggestionen können Juckreiz auslösen, Kratzen kann im Sinne eines Circulus vitiosus Juckreiz verstärken. Situationsbedingter Juckreiz kann durch berufliche Tätigkeiten hervorgerufen werden, aber auch psychogene Ursachen haben. Nach Ausschluss aller anderen Ursachen kann ein psychogener Juckreiz vermutet werden. Oft ergibt sich der Veracht aber bereits aus der sonstigen psychiatrischen Anamnese. Eine Vielzahl von Hautkrankheiten verschlimmert sich bei Stress. Manchmal ist die Haut aber gesund und eine psychische Störung führt über Selbst- Manipulationen zu einem Hautsymptom. Selbst zugefügte Kratzwunden sind ein häufiges und nicht selten gravierendes Problem. 2% aller Patienten beim Hautarzt und 9% aller Patienten mit Juckreiz haben ausschließlich dieses Haut- Problem. Betroffen sind meist Frauen mittleren Alters. Im Gegensatz zu den selten vorkommenden absichtlich verursachten Hautkrankheiten ist die Diagnose für den Arzt einfach, da die Patienten die Ursache dem Arzt berichten. Typischerweise liegen die Hautveränderungen an leicht zugänglichen Stellen. (siehe Bild). Teilweise sind es nur ganz kleine und wenige Stellen am Unterarm, nicht selten aber auch hunderte oft in einander übergehende Stellen unterschiedlichen Alters am Körper. Am Beginn steht oft eine zufällig aufgefallene Unebenheit der Haut oder ein Juckreiz mit nachvollziehbarer Ursache. Einmal mit dem Kratzen begonnen entsteht dann nicht selten ein Teufelskreis bei dem das Kratzen ein Jucken und das Jucken dann wieder ein Kratzen auslöst. Die Patienten graben oft richtiggehend und Stundenlang in den Wunden. Sie suchen dort oft zwanghaft nach etwas, was sie herauskratzen könnten, um damit den Zwang zu kratzen beenden zu können. Ärztlicherseits müssen zunächst körperliche Ursachen ausgeschlossen werden. Neben eigentlichen Hautkrankheiten kommen dabei Stoffwechselstörungen wie Blutarmut, Diabetes m. Leberschäden, Schildrüsenkrankheiten, Nierenerkrankungen aber auch Darmparasiten oder Krebserkrankungen in Betracht. Da Juckreiz lange der Entdeckung eines Tumors vorausgehen kann, sind Kontrolluntersuchungen angezeigt. Als Folge der oft großen und hässlichen tiefen Kratzwunden entstehen Scham und Schuldgefühle, die oft die ursächliche psychiatrische Störung verschlimmern. Die Angst vor dem entdeckt werden verstärkt den oft bereits vorbestehenden sozialen Rückzug. Im Gegensatz zu dem Selbstverletzenden Verhalten das man häufig bei Jugendlichen mit Persönlichkeitsstörungen (siehe dort) findet, ist diese Art der Kratzverletzungen nicht „ansteckend“, es gibt fast nie Nachahmer. Psychiatrische Ursachen sind oft Depressionen, Zwangsstörungen, Tics, Minderwertigkeitsgefühle, Somatisierungstörungen. Seltener als bei dem dem Selbstverletzenden Verhalten bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen liegen auch hier emotional unstabile Persönlichkeitsstörungen zu Grunde. Eine Behandlung der ursächlichen psychiatrischen Störung beendet nicht selten das Kratzen und lässt die Wunden abheilen. Wegen der oft tiefen Wunden bleiben leider oft sichtbare Spuren auf der Haut erhalten. Behandelt wird je nach Störung mit Antidepressiva oder psychotherapeutisch. Bei den Antidepressiva scheinen die selektiven Serotonin- Wiederaufnahme- Hemmer auch einen deutlichen Juckreiz reduzierenden Effekt zu haben. Insbesondere wenn zwanghafte Symptome auch sonst eine Rolle spielen sind nicht selten hohe Dosen erforderlich, aber auch die alten trizyklischen Antidepressiva scheinen wirksam. Oft ist eine zusätzliche dermatologische Behandlung mit Antibiotika, lokalen Kortisonpräparaten oder Feuchtigkeitscremes, oder 0,025–0,075%ige Capsaicinsalbe zusätzlich erforderlich. Das Antidepressivum Doxepin zeigt sich auch bei lokaler Anwendung als Salbe oder Creme wegen seiner antihistaminen Wirkung wirksam gegen Juckreiz. Die sedierenden Nebenwirkungen sind allerdings auch bei lokaler Anwendung vorhanden. Möglicherweise hat die Sedierung auch bei anderen Medikamenten gegen Juckreiz einen wichtigen Anteil an der Wirksamkeit. Auch Aspirin (topisch wie als Tablette) ist zumindest bei manchen Formen von Juckreiz erfolgreich.

 

Quellen / Literatur:

Greaves MW, Wall PD. Pathophysiology of itching. Lancet 1996; 348: 938-40. Biondi M, Arcangeli T, Petrucci RM: Paroxetine in a case of psychogenic pruritus and neurotic excoriations. Psychother Psychosom 2000; 69: 165–166.Tennyson H, Levine N: Neurotropic and psychotropic drugs in dermatology. Dermatologic Clinics 2001; 19; 1: 179–197. Wassilew, Prof. Dr. med. Sawko Wassil Juckreiz: Eine diagnostische und therapeutische Crux deutsches Ärzteblatt, Ausgabe 16 vom 19.04.02, Juckreiz – Eine diagnostische und therapeutische Crux: Schlusswort Wassilew, Prof. Dr. med. Sawko Wassil Dermatillomanie Forum zu diesem Thema Sonnenmoser, Marion Hautkrankheiten: Wechselwirkung zwischen Haut und PsychePP 1, Ausgabe November 2002, Seite 501,Gil Yosipovitch, Malcolm W Greaves, Martin Schmelz, Itch, Lancet 2003; 361: 690–94 [Full Text] [PDF] SCOTT MOSES, M.D., Pruritus Am Fam Physician 2003;68:1135-42,1145-6 PDFLeitlinie Psychosomatische Dermatologie Der Pruritus in der Praxis, Schweiz Med Forum 2006;6:687–693

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur